Irgendwas ist immer zu verändern, oder? Mehr Sport, weniger Schokolade, mehr lernen, weniger unsauber arbeiten… Zuhause, im Beruf, individuell oder in der Gruppe ist stets ein Bedarf an kleineren oder größeren Verbesserungen. Doch leider bleiben viele Veränderungswünsche unerfüllt. Veränderungsinitiativen geraten ins Stocken. Zur Unzufriedenheit über das zu Verbessernde tritt Unzufriedenheit über den unerfüllten Vorsatz.
Im Grunde ist deshalb schon lange klar: Es braucht eine Veränderung der Herangehensweise an Veränderungen. Eigentlich sollte das der erste nächste Vorsatz sein: “Ich möchte besser darin werden, mich zu verändern.”
Aber wie geht bessere Veränderung? Wie können Veränderungsinitiativen verlässlicher zum Erfolg geführt werden?
Nicht, dass es dazu keine Empfehlungen gäbe. Dass Veränderungen nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollten, ist schon lange klar. Gewünscht ist nicht gleich gemacht. Veränderungen passieren nicht “einfach so” und nebenbei. Gerade in Organisationen geht es nicht ohne ein regelrechtes Change Management.
Und dennoch… Der Veränderungserfolg bleibt häufiger aus, als uns lieb ist.
Weniger ist mehr
Ich sehe einen Grund für die geradezu regelmäßigen Misserfolge bei Veränderungsinitiativen in der Quantität.
Es wird zu viel auf einmal gewollt.
Es wird zu häufig wieder etwas Neues gewollt.
Wer privat “mehr Sport” will, der denkt gleich an Sportstudio-Mitgliedschaft und 3x wöchentliches Training. Eine schöne Vorstellung… aber für die meisten irreal. Diese Menge an Lebensumstellung läuft alsbald gegen heftige Widerstände des Etablierten. Ein Fall von
“Culture eats strategy for breakfast.”, Peter Drucker zugeschrieben
Der Umfang der Veränderung ist schlicht zu groß. Zu viel dessen, was schon ist, würde verdrängt werden müssen für das Neue. Das kostet Kraft. Denn das, wofür schon jetzt die 24 Stunden des Tages oder die 168 Stunden der Woche gebraucht werden, hat Beharrungsvermögen.
Und wenn schon eine Veränderung kräftezehrend ist, dann sind es mehrere/häufigere allemal. Wer sich ab Januar “mehr Sport” vornimmt und ab März auch noch “bessere Ernährung” auf dem Zettel haben will, der kann (sehr wahrscheinlich) nicht alles mit gleicher Entschiedenheit verfolgen.
Ich denke daher, dass ein erster Schritt zu verlässlicherer Veränderung darin besteht, sich weniger vorzunehmen. Langsam beginnen, klein beginnen — und dann vorsichtig steigern, wenn das Neue schon nicht mehr neu ist, sondern etabliert.
“Mehr Sport” kann auch mit 7 Minuten 2x pro Woche beginnen. “Bessere Ernährung” kann auch mit einem Markteinkauf und einer selbstgekochten Mahlzeit pro Woche beginnen.
Vor allem: Am besten nehmen wir uns nur eine Veränderung zur Zeit vor. Erst wenn “mehr Sport” etabliert ist, mit “bessere Ernährung” beginnen.
Die Wahrscheinlichkeit von unvollendeten Veränderungen gilt es drastisch zu verringern. Ansonsten droht der grundsätzliche Veränderungswille zu leiden. Change fatigue setzt ein. Der Gedanke “Ach, damit muss ich gar nicht erst anfangen. Das halte ich eh nicht durch.” ist für Individuen wie für Organisationen fatal.
Der Wille ist nichts, die Umwelt ist alles
Was uns krank macht, ob es ein Erreger ist oder die Umwelt, darüber ist in der Medizin vor 150 Jahren schon sehr gestritten worden. Louis Pasteur vertrat die Ansicht, dass der Erreger die Krankheit auslöse und deshalb bekämpft werden müsse. Andere, wie z.B. Claude Bernard (1813-1878), vertraten jedoch einen gegenteiligen Standpunkt:
«Le microbe n’est rien, c’est le terrain qui est tout.»
Sie meinten, der Erreger sei zweitrangig. Vor allem käme es auf das Milieu im Körper an. Nur wenn das schon gestört sei, könne sich ein Erreger überhaupt entfalten.
Ich denke, dieser Streit ist bis heute nicht wirklich beendet. Und vielleicht haben am Ende auch beide Seiten recht. Für Veränderungsinitiativen lässt sich in jedem Fall daraus etwas lernen:
Wenn sich der Veränderungserfolg nicht einstellt, dann liegt das nicht unbedingt am mangelnden Willen, an ungenügender Disziplin. Die Initiative war vielmehr von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil das Umfeld der Veränderung nicht förderlich ist.
Der bisherige Zustand, der verbessert werden soll — z.B. einige Pfunde zu viel auf den Hüften oder ein Mangel an Italienischkenntnissen oder die Papierberge auf dem Schreibtisch —, hat ja einen Grund. Irgendetwas im bisherigen Leben hat genau dem Vorschub geleistet. Das ganze Leben ist sozusagen darauf ausgerichtet, dass der Zustand so ist, wie er ist. Und ich würde sogar sagen: Der aktuelle Zustand, so unbefriedigend er sein mag, gehört sogar zur Identität des Individuums bzw. der Organisation.
Das bedeutet als Erstes: Jede Veränderung kratz auch immer an der eigenen Identität, am Selbstbild. Es geht nie nur darum, etwas zu verändern, sondern immer auch sich selbst. Das kann nur schwer fallen.
Als Zweites bedeutet es: Jede Veränderung wirkt nicht nur lokal, sondern hat Einfluss auf das Ganze. Und das Ganze gibt nicht gern nach.
Beide Widerstände sind mit purer Willenskraft nur sehr schwer zu überwinden. Insbesondere die Trägheit der Umwelt wird regelmäßig unterschätzt. Insbesondere wenn die eigene Veränderung sich auf andere Menschen auswirkt, die für sich keine Veranlassung sehen, die bisherigen Verhältnisse in Frage zu stellen, kommt es zu Konflikten.
Beispiel “mehr Sport”: Wer für sich mehr Fitness sucht und dafür nun 3x pro Woche 60 Minuten veranschlagt, entzieht diese Zeit gleichzeitig anderen Tätigkeiten, womöglich sogar anderen Menschen. Wenn diese Zeit von der auf der Arbeit, der man bisher gern Überstunden gegeben hat, abgezogen wird oder dem Partner/der Partnerin nicht mehr gegönnt wird… dann kann das zu einigen Turbulenzen führen.
Beispiel “weniger Papier im Büro”: Wenn eine Organisation effizienter arbeiten will durch Verzicht auf Papier, das nicht nur Platz kostet, sondern vor allem Zeit für Herstellung und Transport, kann sie schnell ausgebremst werden, wenn ihre Kommunikationspartner sich dem anpassen sollen, aber nicht wollen.
Ohne die Schnittstellen zu anderen zu bedenken und für deren Trägheit vorzusorgen, wird eine solche Initiative im Sande verlaufen.
Einfach nur eine Veränderung zu wollen, ist zu wenig. Niemand ist eine Insel und kaum eine Veränderung kann man nur für sich implementieren. Das Umfeld ist stets von Anfang an mit einzubeziehen. Ohne wirklich Platz zu schaffen in der Umwelt für das Neue, wird sie es nicht dauerhaft zulassen.
Veränderungen sind zu integrieren. Sie lassen sich nicht einfach addieren (oder subtrahieren). Wo das nicht geschieht, scheint oft der Wille zu schwach zu sein — doch diese innere Kraft ist nicht wirklich zu tadeln. Vielmehr ist es die Umwelt mit ihrem Korsett, die das Neue am Wachstum hindert.
Veränderung zur Gewohnheit machen
Je größer die Quantität von Veränderung, desto widerständiger muss die Umwelt sein, desto träger der status quo. Was also tun?
Ich denke, die Softwareentwicklung kann einen Hinweis geben. Dort ist der big bang aus der Mode gekommen. Software wird nicht mehr “in einem Rutsch” produziert, sondern schrittweise. In Inkrementen.
Das, so denke ich, ist das Geheimnis auch für sonstige Veränderungen im Leben. Vielleicht nicht alle, aber viele mehr als bisher gedacht, verdienen einen inkrementellen Ansatz, d.h. Veränderung in kleinen, werthaltigen Schritten.
Das bedeutet, Veränderungen geschehen nicht auf einmal, sondern nur im Rahmen von Gewohnheiten. Ein neuer Zustand ist zu entwickeln. Zugespitzt formuliert bedeutet das:
Habitification: Keine Veränderung ohne neue Gewohnheit.
ChatGPT kann den Begriff habitification nicht erklären. Mir scheint deshalb, er ist neu. Ich finde ihn jedoch passgenau für das, was ich meine.
Angelehnt ist er an gamification:
“Gamification ist die Anwendung von Spielmechaniken in nicht-spielerischen Kontexten, um Motivation und Engagement zu steigern. Beispiele dafür sind die Verwendung von Punkten, Belohnungen, Ranglisten und Herausforderungen in Unternehmen, Bildungseinrichtungen oder Gesundheitsapplikationen. Der Zweck der Gamification ist es, die Benutzererfahrung zu verbessern und die Erreichung von Zielen zu fördern.”, ChatGPT
Bei der habitification geht es darum, Ansätze zur habit formation auf alle
Veränderungen anzuwenden. Das kann auf zwei Ebenen geschehen:Offensichtlich ist die Anwendung auf eine Veränderung, z.B. “mehr Sport” oder “papierloses Büro”.
Auf der Meta-Ebene jedoch geht es auch darum, Veränderungen gewohnheitsmäßig anzugehen. Veränderungen sollten nicht als etwas Besonderes, Außergewöhnliches, gar Lästiges angesehen werden. Vielmehr sind Veränderungen als Anpassungsleistung die Norm. Sie sind ständig nötig; deshalb sollte Veränderung selbst zur Gewohnheit werden.
Um das, was eine Veränderung bewirken soll, mittels Gewohnheit(en) zu erreichen, stellen sich vor allem drei Fragen. Damit meine ich hier allerdings nicht die nach der Tätigkeit, dem Was. Die Antwort darauf ist zwar ultimativ wichtig — doch gerade am Anfang nicht. Ich würde sogar sagen, das Was lenkt oft zu sehr ab und torpediert die Veränderungsinitiative. Viel, viel wichtiger ist das Dass. Dass überhaupt irgendetwas (halbwegs) Zielführendes getan wird, egal, wie klein dessen Beitrag ist, egal, wie effizient/effektiv es erscheinen mag, zahlt mehr auf den Erfolg ein.
Frage 1: Wann?
Wer eine Gewohnheit entwickeln will, die sich im Alltag des Etablierten seiner Umwelt dauerhaft behaupten kann, sollte als erstes fragen, wann Zeit für diese Gewohnheit ist.
Als Gewohnheit bezeichne ich eine wiederholte Aktivität. Die kann ereignisgetriggert sein oder einem zeitlichen Plan folgen. “Mehr Sport” kann sich z.B. ans Zähneputzen als schon existierender Gewohnheit anschließen; dann wird der Sport durch ein Ereignis getriggert. Oder der Sport steht im Kalender am Dienstag nachmittag und Samstag morgen.
Absehbare Wiederholungen, also eine gewisse Regelmäßigkeit, sind zwingend. Wer etwas verändern will, sollte sich also fragen: Wann passt eine neue, veränderte Tätigkeit am besten in den ansonsten schon vollen Tag?
Damit einher geht natürlich die Überlegung, was dadurch verdrängt wird. Wer nach dem Zähneputzen Sport einschiebt, hat dann vielleicht weniger Zeit für einen gemütlichen Morgenkaffee. Am Samstag morgen kann der Familieneinkauf deshalb vielleicht erst später beginnen.
Mit dem Zeitpunkt, ob getriggert oder nach Kalender, ist also eine Abwägung verbunden: Was wird durch das Neue gewonnen vs was wird dadurch verloren? Das muss im Gleichgewicht stehen. Ein zu großer Verlust wird sich ansonsten rächen. Deshalb ist es auch ratsam, das Neue klein und einfach zu halten.
Wie gesagt, wichtiger als Effizienz und Effektivität ist es, dass überhaupt auf die Veränderung in irgendeiner Weise eingezahlt wird. Die Veränderung ist zunächst weniger inhaltlich und mehr formal. Sie besteht vor allem darin, mit Zeit bzw. Aufmerksamkeit anders umzugehen als bisher.
Frage 2: Wie lange?
Wann passt eine Veränderung in die eingespielten Routinen und den hektischen Alltag? Wann lässt sie sich verlässlich einbauen — und für wie lange? Wieviel Raum darf sie einnehmen, ohne den Widerstand der Umwelt zu sehr anzustacheln? Welche Dauer ist noch nicht “identitätsgefährdend”?
Sollte “mehr Sport” am Dienstag nachmittag mit 60 Minuten angesetzt werden? Oder wären zunächst 15 Minuten verträglicher für die Umwelt? Sollte die Umstellung auf das papierlose Büro sofort vollständig sein oder kann sie erstmal nur auf Freitags begrenzt werden? Oder auf Dokumente eines bestimmten Lieferanten, wenn die eintreffen?
Ich halte es für ausnehmend wichtig, sich gut Gedanken über die Größe eines Inkrements einer Veränderung zu machen. Wie häufig und für welchen Zeitraum soll das Neue das Bestehende ersetzen?
Zu oft ist die Frequenz zu hoch und die Dauer zu lang, um friedlich mit der Umwelt zu koexistieren. Deshalb ist es wohl besser, lieber seltener und kürzer eine Veränderung einzuführen. Stattdessen weitere Inkremente nachschieben, wenn sich schon ein bisschen Neues etabliert hat.
Was dann in gewisser Häufigkeit und Zeit getan werden kann, wird sich zeigen. Dass zumindest das schonmal verlässlich getan wird, ist zentral.
Frage 3: Mit wem?
Und wie wird sichergestellt, dass der nun deutlich bescheidenere Vorsatz auch eingehalten wird? Dass dann und solange das Neue auch wirklich dran ist und nicht das, was alt und bequem ist?
Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist das nach Verbindung zu anderen. Wir wollen in Nähe sein, nicht auf Distanz. Wir suchen deshalb ständig nach Rückmeldungen, ob das auch der Fall ist. Ein like zu einem Posting, ein Kommentar, ein Schulterklopfen, eine Umarmung sind uns Zeichen dafür. Wir gehören dazu, wir machen für andere einen Unterschied. Wir sind also auf dem richtigen Weg.
Das können wir uns für Veränderungen zunutze machen.
Keine Veränderung ohne Begleitung!
So, wie das Spielen allein wenig Freude macht, so macht auch die Veränderung allein wenig Freude. Es ist viel motivierender, sich mit anderen zusammen zu verändern — oder zumindest ein Gegenüber zu haben, das unsere Bemühungen interessiert, gar wertschätzend verfolgt.
Wenn wir uns für jemanden verändern, wenn unsere Veränderung für einen anderen wirklich einen Unterschied macht, dann sind wird beflügelt. Romantisches Beispiel: Die Geschichten, in denen jemand für die große Liebe deren Muttersprache lernt, sind zahlreich.
Wo Veränderung angestrebt wird, wird am besten eine Gemeinschaft gebildet, in der alle dasselbe Ziel haben. Oder — aber das ist die zweitbeste Lösung — ein accountability partner fungiert als Gegenüber, dem von Erfolgen wie Misserfolgen berichtet wird.
Veränderungen sind keine einfache Sache. Je vollgepackter das Leben schon heute, desto schwieriger, Neues zu etablieren. Das Vorhandene, das schon Gewohnte hat großes Beharrungsvermögen.
Um dieser Trägheit entgegen zu wirken, finde ich die habitification hilfreich: Das Neue zerlegen in viele kleine Gewohnheiten, die getrennt und nacheinander etabliert werden können. Erst wenn die eine solide Fuß gefasst hat, also schon normal geworden ist, wird die nächste angegangen. Habit stacking, eine Gewohnheit auf einer anderen aufbauen, ist ein Ansatz, um Vorsätze und change initiatives eher zum Erfolg zu verhelfen.

Statt zu versuchen, einen großen Sprung zu machen — denn einen Fahrstuhl zum Erfolg gibt es ohnehin nicht —, lieber viele kleine Schritte.
Und jeder dieser Schritte, der schon erfolgreich getan wurde, stärkt die Motivation, weiterzugehen. Wo eine neue, kleine Gewohnheit etabliert wurde, steigt das Gefühl, etwas bewirken zu können. Das treibt von innen an, es mit einem nächsten Schritt noch einmal zu probieren. Achievement unlocked. Enter the next level! Insofern hat habitification auch Elemente von gamification. Und warum nicht? Veränderung darf Spaß machen.
Wer mit Behörden oder Banken zu tun hat, weiß davon ein Lied zu singen.
Zum Glück gibt es Tools, mit denen eine digitale Schnittstelle zu einer analogen Umwelt aufgebaut werden kann. Mehr dazu in einem Artikel von Work With Ease.
Und wenn nicht auf alle, dann zumindest dort, wo Veränderungen nicht vorankommen. Dann lautet die Frage: Können wir die Veränderung noch mehr in neue Gewohnheiten verpacken?
Sich zu verändern ist auch eine Sache der Übung. Die Veränderungsfähigkeit nimmt zu, je häufiger und bewusster man sich verändert.
Als nicht in die Veränderung Involvierter kann ein accountability partner auch eine Außenperspektive beisteuern, um dem Veränderungsprozess noch ganz andere Impulse zu geben. An der Veränderung selbst beteiligt zu sein bzw. gerade nicht beteiligt zu sein, hat jeweils eigene Vor- und Nachteile. Insofern mag sogar eine Kombination von Gemeinschaft und accountability partner am kräftigsten wirken.
So kann's gehen. Dein Artikel hat mir sehr gut gefallen. Beim Lesen habe ich an das Buch "The coaching habit" von Michael Bungay Stanier gedacht. Da gibt's auch ein paar Tipps zur "Habitification", die ich gut finde. Die Coaching-Tipps in diesem Buch sind auch lesenswert.