Purpose ist so ein Begriff, der viele Unternehmen umtreibt. Mit purpose wollen/sollen sie die Produktivität ankurbeln. Sinn ist ihnen also heute ein Mittel nach vielen anderen, die sie schon mit mehr oder weniger Erfolg in Anschlag gebracht haben, z.B. Gehalt, Incentives, “We are family”, Weiterbildung…
Ich bezweifle jedoch, dass das mit dem Sinn funktioniert. Denn der Sinn steht quer zum Zweck des Unternehmens. Aber ich fange mal am Anfang an:
Einzelne
Einzelne sehen einen Sinn in ihrer Tätigkeit, wenn sie damit ihren Interessen dienen. Die Arbeit auf dem Feld ist für den, der von den Feldfrüchten leben muss, ganz natürlich sinnvoll. Sinn-voll ist auch die Erziehung der eigenen Kinder.
Und natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sinn-ig ist, einer Arbeit nachzugehen — sei es als abhängig Beschäftigter oder Selbstständige —, wenn man die Grundbedürfnisse nicht direkt mit der eigenen Hände Arbeit, sondern nur indirekt mittels Geld befriedigen kann.
Sinnvoll ist also primär, überhaupt zu arbeiten, nicht, worin diese Arbeit besteht.
Gemeinschaften I — Tauschgemeinschaft
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er kann nicht wirklich allein sein. Wer allein ist, droht unterzugehen. Allein ist alles im Leben schwer. Den Menschen treibt eine tief sitzende Sehnsucht nach Gemeinschaft an. Er will mit anderen sein; er will Teil von etwas Größerem sein.
Zusammengehalten wird die Gemeinschaft durch reziprokes Geben. Heute gibt der eine dem Anderen, morgen gibt die Andere dem einen. Wer sich einer Gemeinschaft anschließt, gibt mithin notwendig Freiheit auf. Nichts zu abzugeben, ist keine Option. Aber dafür bekommt jedes Gemeinschaftsmitglied auch etwas aus der Gemeinschaft.
In Gemeinschaften ist es also sinn-voll, Arbeit zu leisten, von der andere in der Gemeinschaft sichtbar profitieren. Wer z.B. Schuhe repariert für ein anderes Gemeinschaftsmitglied, erfährt doppelt Sinn.
Sinn-erfüllende und -erfüllte Arbeit in einer Gemeinschaft ist deshalb selbstständig: Was der Eine leistet, braucht die Andere — und mehr oder weniger direkt auch umgekehrt.
Gemeinschaften II — Überlebensgemeinschaft
Gemeinschaften als soziale Systeme haben daher selbst auch einen Sinn. Sie spannen Räume auf, in denen Menschen ihren Interessen leichter nachkommen können.
Das ursprüngliche Interesse ist das individuelle Überleben. Gemeinschaften sind als Ganzes also Überlebensorganisationen. Ihre Mitglieder wollen leichter überleben, also ist Fortbestand der Gemeinschaft der Selbstzweck, der purpose der Gemeinschaft.
Gemeinschaften III — Interessengemeinschaft
Menschen können sich allerdings auch zu einem konkreten, spezifischeren Zweck zusammenschließen. Zuzeiten bilden sie Interessengemeinschaften wie
die Gemeinschaft derjenigen, die sich vor einem Schaden schützen wollen, z.B. Feuerkasse, Krankenversicherung. In diesen Gemeinschaften (oder auch Genossenschaften genannt) leisten alle einen Beitrag, um im Notfall eine Leistung von der Gemeinschaft zu beziehen.
die Gemeinschaft derjenigen, die denselben “Zielzustand” anstreben, z.B. preisgünstig-bequemes Pendeln zum Arbeitsplatz, die Errichtung eines Tempels oder die Eröffnung eines Lebensmittelladens im Dorf. Fahrgemeinschaft, Religionsgemeinschaft und Genossenschaft haben für alle Mitglieder einen ganz natürlichen, klar erkennbaren purpose.
Das Muster
Wenn ich die Augen zusammenkneife, meine ich, über all die Gemeinschaftsformen hinweg ein Muster zu sehen:
Gemeinschaften werden freiwillig gegründet. Menschen kommen zusammen, um für sich selbst etwas zu tun. Der purpose ist stets auf sie selbst bezogen; ihn zu verfolgen, dient dem eigenen Interesse.
In der Tauschgemeinschaft gebe ich etwas, um etwas sofort oder später zu bekommen.
In der Überlebensgemeinschaft sind wir alle für einander dar, um unser individuelles und auch gemeinschaftliches Überleben leichter zu machen.
In der Interessengemeinschaft verfolge ich mit anderen ein Ziel, von dessen Erreichen ich unmittelbar etwas habe.
In allen Gemeinschaften sind die Mitglieder deshalb mit Chancen und Risiken dabei, sie profitieren direkt von Gewinnen und leiden direkt unter Verlusten. Es ist mithin spürbar sinn-voll, sich bestmöglich einzusetzen.
Unternehmen sind keine Gemeinschaften
Wenn Menschen sich für purpose bereit sind, sich einzusetzen, dann liegt es nahe, dass Unternehmen diesen Antrieb anzapfen. Wer purpose vermitteln kann, bekommt mehr Leistung.
Die $1.000.000 Frage ist also: Welcher purpose ist der richtige?
Das scheint notorisch schwer für Unternehmen zu beantworten. Sie wenden sich daher gern hilfesuchend an die purpose peddler, d.h. die Industrie der Berater, die nur allzu gern als Guides auf dem Weg zum purpose fungieren. Natürlich für kein kleines Honorar.
Ziel, Mission, Vision,… purpose: Diesen Berg gilt es zu erklimmen. Das ist kein leichtes Unterfangen, doch es winkt ein großer Gewinn: totaler Einsatz jedes abhängig Beschäftigten im Unternehmen von ganz unten im Organigramm bis ganz oben. Und alles ganz natürlich, wie von selbst, quasi zwingend. Denn es gilt doch:
Ist der purpose klar, legt sich der Mitarbeiter ins Zeug.
Oder?
Auf jeden Fall. So ist der Mensch gestrickt. Nur ist eben die Frage: Welcher purpose klingt für ihn wie der Ruf einer Sirene?
Dass es so schwierig ist, einen zwingenden purpose für Unternehmen zu finden, liegt für mich in der Heterogenität der Beteiligten begründet. Sie unterscheiden sich in ihrer Herkunft, Bildung, gesellschaftlichem Status, Vermögen, Weltsicht, Geschlecht, Eigentumsanteilen am Unternehmen,… und deshalb in ihren Interessen.
Nur ein Interesse teilen sie: Sie wollen Geld vom Unternehmen. Deshalb lassen sie sich von ihm beschäftigen bzw. haben Anteile daran.
Was lässt sich für ein purpose für einen “Interessenzoo” finden?
Ein Unternehmen ist keine Tauschgemeinschaft. Kein Mitarbeiter produziert etwas für eine Kollegin, weil er deshalb mehr oder weniger direkt etwas von ihr oder anderen zurückbekommt. Das, was Mitarbeiter wollen, ist zunächst einmal Geld — und das kommt nicht von Kollegen, sondern “von oben”. Das Gehalt hat wenig mit den Ergebnissen der Einzelnen zu tun.
Ein Unternehmen ist keine Interessengemeinschaft. Mitarbeiter schließen sich nicht zusammen, um gemeinsam die Welt zu verändern. Das ist höchstens am Anfang in kleinem Umfang bei Gründern der Fall. Wer erst später dazu kommt und allemal kein Miteigentümer ist, empfindet keinen purpose in einem zu erreichenden Zielzustand “da draußen”; es zählt vor allem, ob das Gehalt stimmt. Das Interesse ist also nach innen gerichtet.
Ein Unternehmen ist auch keine Überlebensgemeinschaft. Ein Unternehmen ist kein Stamm oder Dorf. Es wird gegründet, um durch Leistung für einen Markt Geld zu verdienen für die Eigner. Solange die in der Minderzahl sind und allemal, wenn sie nicht Teil des Unternehmens sind, kommen die allermeisten Beschäftigten nicht ins Unternehmen, um gemeinschaftlich durch gegenseitige Hilfe zu überleben.
Allemal Unternehmen, die um purpose ringen, haben eine Größe, die sie keine Interessen- oder Überlebensgemeinschaften sein ließe.
Daraus folgt:
Für Unternehmen gibt es keinen purpose, der motivationsstiftend für weite Teile der Belegschaft sein könnte.
Umso mehr gilt das, wenn die Belegschaft nicht wie in organischen Gemeinschaften an Chancen und Risiken, an Gewinn und Verlust beteiligt ist.
Purpose hat nur Sinn [sic] für Miteigentümer.
Purpose ist das, worum es geht. Alles andere wird darauf ausgerichtet. Für den purpose werden Opfer gebracht.
Wofür sind weite Teile einer Belegschaft aber bereit, Opfer zu bringen? Dafür, dass die Produktion umweltfreundlich bleibt, oder dafür, dass mehr Kinder Schuhe tragen können, oder dafür, dass endlich die Ukraine den Krieg gewinnt, oder dafür, dass die Demokratie gestärkt wird, oder dafür, dass Bauern in fernen Ländern fair bezahlt werden, oder dafür, dass das Getränk in Pfandflaschen vertrieben wird?
Was wäre ein Opfer? Weniger Urlaub, längere Wochenarbeitszeit, weniger Fortbildung, mehr Anstrengung während der Arbeitszeit, kein Homeoffice mehr,… und natürlich weniger Gehalt.
Wer würde diese Opfer bringen für einen der genannten purposes? Niemand. Wer anderes behauptet, ist ein “Schönwetterredner”. Außer ganz Hartgesottenen, echten Idealisten bringt niemand ein Opfer — es sei denn, ein Interesse ist in Gefahr. Und auch für Idealisten muss das Wasser nur hoch genug stehen, bis es ihnen ungemütlich wird mit der Verfolgung ihres Ideals.
Das, wofür Angestellte bereit sind, ein Opfer zu bringen ist… der Erhalt des Gehalts. Sie wollen ihr Gehalt, sie wollen gern mehr Gehalt, oder wenn das Gehalt in Gefahr gerät, wollen sie sicherstellen, dass es nicht ganz schwindet. Wenn sie an einem Unternehmen hängen, dann weil es ihnen leichter scheint, von diesem Unternehmen ihr Gehalt zu bekommen, als von einem anderen. Oder weil die Kollegen so nett sind und “in Beziehung sein” — hier: Teil einer Leidensgemeinschaft — auch ein grundlegendes Interesse (Bedürfnis) ist.
Natürlich, Menschen lassen sich auch anstellen, weil sie ein Interesse an den Produkten eines Unternehmens haben. Der eine möchte sich in seinem Fachgebiete lieber bei einem Modeunternehmen einbringen, die andere bei einem Rüstungsunternehmen. Vor allem jedoch liegt beiden ein solides, regelmäßiges Gehalt in stabiler Anstellung am Herzen, das sie mit ihren Kompetenzen erarbeiten. Ein purpose des Unternehmens ist… zweitrangig at best.
Unternehmen als Leidensgemeinschaften
Wenn Unternehmen irgendeine Form von Gemeinschaft sind, dann eine Leidensgemeinschaft. In ihnen sammeln sich ganz natürlich diejenigen, die unter gemeinsamen Arbeitsbedingungen und demselben Management leiden. Das ist in jeder Teeküche oder in Pendlerzügen zu hören. Kohäsion zwischen den Beschäftigten entsteht durch Geschichten über eine geteilte Umwelt, die Unternehmensinnenwelt. Gemeinsam die Augen zu rollen über Vorgesetzt oder über Mitgefühl der Zugehörigkeit zu versichern, ist Schmiermittel und Kleber zugleich.
Unternehmen als Versammlungen von abhängig Beschäftigten können nicht anders sein. Sie haben keinen purpose aus Sicht dieser Abhängigen jenseits des Erhalts von Mitgliedschaft für stabiles Einkommen. Alles andere steht immer zur Disposition.
Wenn der heutige Wanderschuhproduzent morgen einen lukrativen Regierungsauftrag zur Herstellung von Militärstiefeln bekommt, wird niemand kündigen.
Wenn der Schuhproduzent übermorgen dann auf Handschuhe oder Taschen umstellt, weil dort mehr Marge zu erwarten ist, wird auch kein Abhängiger kündigen.
Wenn das Material günstiger eingekauft werden muss, obwohl dadurch die Armut im Bezugsland größer wird, falls sonst ein Konkurs droht, wird niemand freiwillig aus der Belegschaft ausscheiden.
Das Gehalt ist jedem abhängig Beschäftigten näher als jeder purpose.
Der einzige und universelle purpose für Unternehmen
Und damit ist der purpose für jedes Unternehmen klar. Er muss nicht gesucht werden:
Stabiles Einkommen in einer turbulenten Welt ermöglichen
Das ist, was Angestellte interessiert.
Damit das für sie jedoch zum fühlbaren, antreibenden purpose wird, müssen sie ihren Anteil an Wohl und Wehe des Unternehmens spüren. Wer davon entkoppelt ist, wird nicht von einem purpose angetrieben, sondern rein von individuellen Interessen.
Insofern sind Unternehmen natürlich austauschbar. Wer größere Stabilität und/oder mehr Einkommen verspricht, wird vorgezogen. Aus Sicht von Angestellten gibt es prinzipiell einen Markt, auf dem Unternehmen sich ihnen anbieten. (Wenn, ja, wenn Angestellte ein dazu passendes Mindset haben, d.h. wenn sie sich nicht abhängig machen wollen.)
Unternehmen müssen sich also schon anstrengen, attraktiv zu sein und zu bleiben. Doch der purpose ist das falsche Mittel. Es ist — sorry to say — verlogen. Weil Unternehmen eben keine Gemeinschaften sind, die sich um einen purpose scharen und durch ihn angetrieben sind.
Es ist Zeit, finde ich, sich vom purpose zu verabschieden, um mehr Produktivität aus Mitarbeitern heraus zu kitzeln. Purpose als Wunderwaffe ist ein Mythos.
Unternehmen werden nicht durch einen äußeren Sinn, ein Ideal zusammengehalten, sondern durch… Geld.
Sehr schöne Analyse - Ich denke die Frage nach dem Sinn der Arbeit ist die Befriedigung der Bedürfnispyramide angepasst an die Arbeitswelt. Ganz unten ist sicherlich das Monetäre und weiter oben Aspekte, die im Artikel genannt wurden (Family-Feeling, Weiterkommen, etc..).
Irgendwo ist die Frage nach dem Sinn zu verorten. Arbeitgeber versuchen daraus etwas zu "machen" und die Frage nach dem Sinn verkommt zu einer Marketingschlacht - auch, wenn das eigene Unternehmen nicht viel zu bieten hat.
Eine echte, faire und monetäre Teilhabe am Erfolg des Unternehmens wird dann doch nicht gewünscht - es wird mit Peanuts geworfen :-)