Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst
Freund der Impfung: Ich verstehe dich. Ich verstehe, wenn du Angst vor COVID-19 hast. Ich verstehe auch, wenn du Angst davor hast, nicht…
Freund der Impfung: Ich verstehe dich. Ich verstehe, wenn du Angst vor COVID-19 hast. Ich verstehe auch, wenn du Angst davor hast, nicht vom Gesundheitssystem versorgt zu werden, weil es durch COVID-19 Patienten verstopft sein könnte. Ich verstehe also auch, wenn du Angst davor hast, dass sich viele, zu viele nicht sich und andere direkt und indirekt durch eine Impfung schützen lassen wollen. Ich verstehe, dass die Angst dir nahelegt, diese Zögernden, gar Uneinsichtigen zu einer Impfung zu verpflichten, wenn denn alle guten Worte nicht helfen.
Wirklich, ich verstehe dich. Ich habe auch meine Ängste; wenn nicht vor COVID-19, dann vor anderem, das ich für mich oder die Gesellschaft als Gefahr einschätze. Nicht immer kann ich mich selbst mit vertretbarem Aufwand allein schützen; manchmal bin ich von anderen dafür abhängig. In dunklen Minuten wünsche ich mir auch manchmal, ich könnte andere, die das von mir empfundene Risiko für mich (scheinbar) erhöhen, dazu verpflichten, mir zu helfen, meine Angst zu mildern.
Aber es sind wirklich dunkle Minuten. Es sind Minuten des Reflexes, also der Unvernunft. Denn in hellen Minuten weiß ich: So funktioniert es nicht. Zwang, Verpflichtung, befohlene Freiheitseinschränkung machen einfach das bekömmliche, prosperierende, friedliche Zusammenleben kaputt.
Natürlich geht es nicht ohne Regeln, also Begrenzungen der Freiheiten im Miteinander. Doch das sollten vor allem Selbstverpflichtungen aus Einsicht oder Empathie sein. Alles Befohlene, aller Druck erzeugt Gegendruck oder zumindest Ausweichen. Bei Viren gibt es eine Immunflucht, bei Menschen gibt es eine „Befehlsflucht“.
Es mag plausibel klingen: „Die Freiheit des einen endet, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt.“ Das leuchtet natürlich auch mir ein. Irgendwie. Doch es ist ein Totschlagargument: Damit kann jeder stets alles von anderen fordern, wenn er sich in irgendeiner Weise eingeschränkt fühlt.
Das ist toxisch für das Miteinander. Die Toxizität dieses Gemeinplatzes besteht darin, dass er dazu führt, „dass Briefmarken geklebt werden.“ Wer ihn anderen um die Ohren haut und damit sogar bewirkt, dass die zähneknirschend einknicken, bekommt zunächst und oberflächlich zwar, was er sich wünscht — doch das bleibt nicht folgenlos. Die, die eingeknickt sich, die der Drohung mit dieser Keule durch Erfüllung der Forderung ausgewichen sind, werden sich erinnern. Sie tragen dies in ihr „Briefmarkenalbum“ ein. Und darin werden sie später blättern und sehen, welche Rechnungen alle noch zu begleichen sind. Jede Briefmarke entspricht einer Forderung, die Gegenforderungen motiviert. Auch das ist alt und ganz plausibel: „Wie du mir, so ich dir.“
Für mich ist dieser Gemeinplatz quasi eine „soziale Atombombe“, die jeder in den Händen hält. Er verleiht große Macht; niemand kann sich der grundsätzlichen Plausibilität entziehen. Wenn man mit ihrer Anwendung konfrontiert wird, darauf mit einem Wunsch nach genauerer Betrachtung zu reagieren, feinere Argumente zu entgegnen, gar um Milde zu bitten… das fruchtet nicht. Der, der diese „Atombombe“ wirft, fühlte sich ja schon in die Ecke gedrängt und anderweitig hilflos; an differenzierter Diskussion ist er nicht mehr interessiert.
Jeder ist mit diesem Gemeinplatz also eine „Atommacht“ und mag sich stark fühlen. Doch ich gebe das Peter-Parker-Prinzip zu bedenken: „Mit großer Macht kommt große Verantwortung.“
Wer diese Waffe einsetzt, muss einfach damit rechnen, dass die Gegenseite sie auch einsetzt. Früher oder später. Das wirft die Frage für jeden auf: „Bin ich bereit, diese Konsequenz wirklich, wirklich zu tragen?“
Wenn du geneigt bist, in der Impfdebatte von anderen zu fordern, dass sie sich auch impfen lassen sollen, bist du dann auch bereit, zukünftigen Forderungen anderer ebenso Folge zu leisten? Bist du bereit dafür, dass andere die „Atomwaffe“ des Gemeinplatzes gegen dich einsetzen? Wirklich?
Die Atommächte während des Kalten Krieges sind zu dem sehr weisen Entschluss gekommen, ihre Atomwaffen nicht einzusetzen, sondern in atomarer Inaktivität zu verharren auf der Basis der Flexible Response Strategie: NATO wie Warschauer Pakt hatten sich vorbehalten, auf atomare Angriffe mit atomarem Gegenschlag zu antworten. Das schloss zwar keinen atomaren Erstschlag aus, doch hat klar gemacht, dass der nur zu einer lose-lose Situation führen würde.
Dieselbe Strategie scheint mir nun auch empfehlenswert in der Impfdiskussion: Keine Seite sollte den gemeinschaftszerstörenden Gemeinplatz als Waffe für einen Erstschlag nutzen. Davon erholt sich die Gesellschaft so schnell nicht.
Vielleicht findest du die Analogie unangemessen. Dann lass mich an deine Vorstellungskraft appellieren:
Heute bist du es, der anderen eine Pflicht auferlegen will. Sie sollen einer Freiheit beraubt werden, weil es deine Angst beruhigt. Du bringst den Gemeinplatz ins Spiel; du rufst die Empathie, die Solidarität an. Du fährst das Arsenal des Moralismus auf. Entweder man ist einsichtig, für dich, also auf der Seite der Guten — oder man ist renitent, gegen dich, auf der Seite des Bösen (heute gern in Summe mit „rechts“ betitelt).
Wie gesagt, ich verstehe dich in deiner Verzweiflung. Du hast Angst um dich, deine Lieben und vielleicht auch abstrakt um die ganze Gesellschaft. Du fürchtest gesundheitliche Schäden oder denkst auch größer, was an wirtschaftlichen entstehen könnte, wenn weiterhin Ungeimpfte ihren Willen behalten dürften.
Ja, ich verstehe das. Die Angst hat dich im Griff. Das ist menschlich.
Das macht es dir natürlich auch schwer, an morgen zu denken. Negative Konsequenzen fallen dir nicht ein. Was kann schlecht daran sein, wenn einfach alle dazu verpflichtet werden, wie du zu denken und zu handeln?
Ich bitte dich jedoch, für einen Moment einmal doch an morgen zu denken, allerdings ein anderes Morgen, als du es dir bisher vielleicht vorstellen konntest:
In dieser Zukunft hast du eine fest Überzeugung, nach der du handeln dürfen willst. Du möchtest frei sein, deine Überzeugung auszuleben. Was könnte das sein? Vielleicht möchtest du einer bestimmten Ernährungsweise folgen, die dir persönlich gesund erscheint. Vielleicht möchtest du dich kleiden, wie du es für dich als attraktiv oder funktional erachtest. Oder du möchtest einem Ritual folgen, das dich tief berührt und hilft, dein Leben zu meistern.
Für andere mag zu solchen Handlung das Rauchen, das Fleisch essen, die Verschleierung, das fünfmalige tägliche Gebet, das Autofahren ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, das Abschalten der Atomenergie, die vegane Ernährung, die Küsschen-Küsschen-Begrüßung, die Sportausübung in hautenger Kleidung oder sonst etwas gehören. Für dich vielleicht nicht. Für dich ist es etwas anderes. In jedem Fall wirst aber auch du tiefsitzende Überzeugungen haben, die du uneingeschränkt ausleben willst.
Und jetzt kommt jemand daher und fordert von dir, genau das nicht mehr zu tun, weil er sich in seiner Freiheit dadurch eingeschränkt fühlt. Nein, nicht nur er, viele in der Gesellschaft fühlen sich durch dich in ihrem Handeln oder sogar nur Denken und Fühlen beeinträchtigt. Für dich ist das unverständlich; du teilst das Gefühl der Beeinträchtigung nicht. Ist doch alles ok — nur soll man bitte dich in Ruhe lassen mit überzogenen Forderungen. Bisher waren deine Überzeugung, dein Verhalten auch kein Problem. Warum jetzt?
Erst einer, dann viele, deren Haltung du gar nicht teilst, wollen dich verpflichten im Namen einer von ihnen empfundenen Unsolidarität, dass du deine Überzeugung aufgibst oder zumindest deine Handlungen unterlässt.
Bist du bereit dazu? Willst du deine Freiheit einfach so aufgeben, weil da ein anderer oder auch viele andere sich durch deine Ausübung der Freiheit gestört fühlen? Willst du kampflos „Ja, klar!“ sagen? Wirklich?
Du willst dir so eine Situation natürlich nicht vorstellen. Du kannst sie dir vielleicht nicht vorstellen. Aber überlege mal vor, was du empfinden würdest, wenn die Impfpflicht ein für alle mal vom Tisch wäre. Alle Corona-Maßnahmen würden von heute auf morgen abgeschafft. Wie würdest du dich fühlen? Du wärest verpflichtet, nein, verdammt dazu, mit all diesen Gefährdern zu leben, die das Gesundheitssystem bedrohen. Die Uneinsichtigkeit hätte gewonnen. Wie würdest du dich fühlen?
Und genau so, haargenau so fühlen sich die, die du zur Impfung verpflichten willst heute.
Zu deinem Glück ist es nun gerade nicht so, dass dieses Szenario realistisch ist. Die Impfpflicht wird wohl kommen — so scheint es zumindest Anfang Dezember 2021. Doch andere Situationen, die dich in die Position der Ungeimpften bringen, sind nicht unwahrscheinlich.
Dass die „Atomwaffe“ der moralischen Argumentation gegen dich angewendet wird, ist nicht ausgeschlossen. Allemal die, denen du sie heute hinwerfen willst, werden dir das nicht vergessen. Das ist auch nur menschlich. Sie lauern auf eine Gelegenheit zum Gegenschlag.
Deshalb mein Appell an dich als Freund der Impfung: Lass es sein! Fordere keine Impfpflicht. Setze nicht das Deine-Freiheit-endet-wo-meine-beeinträchtigt-wird Argument ein. Verzichte auf den Erstschlag, auch wenn du gerade meinst, er schiene der einzige Ausweg und sei doch eigentlich gar nicht so schlimm.
Wenn du willst, erfreue dich der Macht, die du grundsätzlich hast. Doch folge der Flexible Response Strategie. Suche andere Wege der Überzeugung — und lebe zur Not damit, dass sich dein Wille nicht durchsetzt.
Keine Sorge, du wärest dann nicht der Verlierer. Zumindest nicht der einzige Verlierer. Denn in der Corona-Pandemie gibt es bisher nur Verlierer in der Bevölkerung. (In anderen Gruppen mag es große Gewinner geben. Aber das ist ein anderes Thema.)
Wenn du dir wünschst, dass alle, alle nun endlich geimpft sein mögen, weil sie müssen… frage dich immer, ob du mit den indirekten Konsequenzen, die sich daraus ergeben, wirklich leben willst.
Die von dir ersehnte Impfpflicht statuiert ein Exempel der Freiheitseinschränkung. Auch wenn dir der Zweck dieses Mittel heiligen mag, überlege, ob nicht morgen du das Opfer einer dadurch leichter von der Hand gehenden weiteren Freiheitseinschränkung sein könntest.
Gesundheit, Sicherheit, Gemeinwohl, Solidarität oder auch nur „der gute Anstand“ sind gierig. In ihrem Namen lässt sich früher oder später die Einschränkung auch dessen rechtfertigen, was dir heute lieb und teuer ist. Eine Impfpflicht macht es kommenden Pflichtforderungen leichter, sich durchzusetzen — solange, bis auch du gegen deinen Willen dran bist.
In einer demokratischen Gesellschaft sollten wir ohne Pflichtforderungen miteinander zu Einigungen kommen, auch wenn das heute dem einen und morgen der anderen gegen den Strich geht. Angst ist kein guter Ratgeber, Pflicht ist kein gutes Heilmittel.