Homo larva
Masken werden so normal sein, wie das Tragen von Kleidung seit Jahrtausenden normal ist.
Masken werden so normal sein, wie das Tragen von Kleidung seit Jahrtausenden normal ist.
Heute waren meine Freundin und ich das erste Mal richtig einkaufen nach Einführung der Maskenpflicht in Deutschland. Wir haben uns vorgenommen, alles Nötige an einem Tag der Woche im Rundumschlag zu kaufen. Öfter wollen wir nicht maskenverhüllt in Läden gehen. Den ÖPNV brauchen wir nicht. Die Maskenpflicht tangiert uns damit hoffentlich bis zu ihrem Ende nur marginal.
Angesichts der braven Maskenträger nicht nur im Laden, sondern auch vor den Läden und weit entfernt von ihnen, ist mir jedoch ein Gedanke gekommen: Die Maske ist gekommen, um zu bleiben. Sie wird tatsächlich zum sozialen Standard werden, wie es sich die Forschung wünscht.
Die allgemeine Maskenpflicht in Läden und ÖPNV wird beendet werden. Daran habe ich keinen Zweifel. Aber die spezielle Maskenpflicht wird eingeführt, z.B. in bestimmten Institutionen wie Altenheimen oder Krankenhäusern.
Vor allem jedoch werden sich soziale Standards und Gewohnheiten entwickeln, wo und wann “man Maske trägt”. Diesen Gewohnheiten werden viele Menschen folgen, manche aber nicht. Wir leben auch in dieser Hinsicht im Pluralismus. Und an manchen Orten und zu manchen Gelegenheiten wird die Maske “zur Ehrensache”: immer noch keine Pflicht, wird “man” sich nicht trauen, ohne zu erscheinen.
Fußgängerzone, Park, Stadion, Laden, Bus, Behörde, Straßenfest Großraumbüro, Kino, Werkstatt usw. usf. werden sich im Tragen von Masken unterscheiden. Und ich glaube, dass Stadt und Land und Alt und Jung sich darin unterscheiden werden.
Die Maske wird ein Bekleidungsstück für alle werden, das sie situationsangepasst tragen. Sie wird ein Teil der technologischen Entwicklung des Menschen sein.
Der Mensch hat mittels Kleidung die ganze Welt besiedeln können. Kein Tier, keine Pflanze kann ohne genetische Veränderung in allen Klimazonen und in jeder Wetterlage überleben — nur der Mensch. Er lebt in der Wüste genauso wie im Dschungel und am Polarkreis. Kleidung hat das seit Jahrtausenden möglich gemacht.
Und nun kommt ein weiteres Kleidungsstück hinzu. Nicht die haarlose Haut wird damit zum Schutz bedeckt, sondern die Atemöffnungen. Der Schutz dient nicht mehr dem Wärmehaushalt, sondern dem Immunsystem.
Damit ist die Menschheit auf einem neuen Level in ihrem Selbstschutz angekommen. Kleidung und Unterkünfte waren die erste Bastion gegen die Gewalten der Umwelt. Sie schützen die äußere körperliche Unversehrtheit. Demgegenüber sehr jung ist die Hygiene als Schutz der inneren körperlichen Unversehrtheit; allerdings hatte die sich bisher nicht in Kleidung ausgeprägt.
Und nun die Maske. Sie macht dort weiter, wo Sauberkeitsmaßnahmen, Desinfektionsmittel und Sterilisationsgeräte bisher aufgehört hatten. Hygiene ist nun nicht mehr punktuell, sondern dauerhaft ein Gebot im Umgang mit anderen Menschen.
Der Zweck dieses neuen Kleidungsstücks unterscheidet sich nicht von dem früherer. Es soll Menschen ein Leben ermöglichen, wo es ohne nur mit mehr Risiko (oder gar nicht) möglich wäre. Dieses Mal geht es jedoch nicht um Temperatur oder Feuchtigkeit, die mit Kleidung zu regulieren wären, sondern um “Viruslast”. Die ist ein Problem beim Zusammenleben, umso mehr, je mehr Menschen und je enger Menschen beieinander leben.
Migrationsbewegungen werden in den nächsten Jahrzehnten zu größeren Konzentrationen von Menschen in Ländern führen. Die Urbanisierung wird weiter fortschreiten und zu größeren Konzentrationen von Menschen in Städten führen.
Mehr Menschen werden mehr als in allen Jahrtausenden vorher ihren Nächsten ausgesetzt sein. Sie nähern sich an — und fürchten sich, dabei eine Grenze zu überschreiten. Auch wenn der oder die andere keine Waffe im Hosenbund trägt und nicht kampfsportgestählt ist, kann er oder sie gefährlich für die eigene Gesundheit sein einfach nur durch Nähe. Diese Angst hat mit SARS-CoV-2 nun breit in den Seelen der Menschen Fuß gefasst. Und ich glaube, sie wird in absehbarer Zeit nicht wieder verschwinden.
Angesichts solcher nun wahrgenommenen quasi permanenten Bedrohung sehen sich Menschen genötigt, aufzurüsten. Sie ziehen nun bereitwillig eine Maske auf, so wie sie im Winter einen Mantel anziehen. Ist es kalt, bedeckt man die Haut, sind andere nah, bedeckt man Mund und Nase.
Das wird ganz normal werden. Oft und für viele.
Ob Masken und welche Masken tatsächlich einen über dem Strich positiven Effekt haben, d.h. bewirken, dass das Leben der meisten glücklicher und länger wehrt, will ich dahingestellt lassen. Zumindest jedoch dieser Tage herrscht wohl solcher Glaube. Deshalb halte ich es für recht wahrscheinlich, dass sich in weiten Teilen der Welt, allemal der westlichen, die Maske als alltägliches Kleidungsstück etablieren wird.
In einem unterscheidet sich die Maske als schützendes Kleidungsstück von allen bisherigen allerdings: sie kann andere als nur ihren Träger schützen. Das ist zumindest die Theorie.
Schuhe, Strümpfe, Hose, Jacke, Mantel, Hut dienen lediglich dem Selbstschutz. Ob man sie anzieht oder nicht, ist jedem selbst überlassen. Der Eingeborene durchstreift den Urwald im Lendenschurz, der Forscher hat festes Schuhwerk, Hose, T-Shirt an. Dem einen reicht eine leichte Jacke im Herbst, der andere zieht schon Mantel und Schal an. Jedem wie es für den persönlichen Schutz gefällt.
Für die Maske könnte das auch gelten. Wer sich schützen möchte in Menschenansammlungen, der zieht sie auf. Das wird allemal akzeptiert werden.
Darüber hinaus könnte die selbst getragene Maske allerdings auch andere schützen helfen. Das kann man von Schuhen und Mantel nicht sagen. Inwiefern ein soziales Gewissen sich daher auf das Tragen von Masken für andere auswirken wird, wird zu sehen sein. Menschheitsgeschichtlich schiene es mir ein Novum, wenn sich eine Kultur ausprägen würde, die auch die zum Tragen einer Maske anhielte, die sich nicht selbst schützen möchten. Umso mehr wäre es eine Einzigartigkeit, da den allermeisten nicht einmal bewusst sein wird, ob und inwiefern sie für andere eine biologische Gefahr darstellen.
Doch das ist wohl eine Feinheit, die sich auch regional und gesellschaftlich unterschiedlich entwickeln wird. Dass Masken in das Kleidungsalltagsbild Einzug halten werden, halte ich für eine absehbare Veränderung des globalen Kleidungsstils der Menschen. For better or worse.
PS: Ich habe in der Schule kein Latein gehabt. Inwiefern home larva also korrekt ist, weiß ich nicht. Man mag mir daher gern eine passendere Übersetzung für “Maskentragender Mensch” oder “Der Mensch als Maskenträger” zutragen.