Faschismus als Virus — Vorsicht vor nachlassendem Impfschutz
Faschismus ist ein Virus, ein geistiges Virus. Er gehört zur Ordnung der Ideologien, der Gattung des Totalitarismus und bildet Arten aus…
Faschismus ist ein Virus, ein geistiges Virus. Er gehört zur Ordnung der Ideologien, der Gattung des Totalitarismus und bildet Arten aus, z.B. den Nationalsozialismus. Man kann von Faschismus infiziert werden, man kann an Faschismus erkranken und man kann an ihm zugrunde gehen. Eine Impfung ist auch möglich. Doch Vorsicht!
Faschismus befällt Gesellschaften, indem er sich in den Köpfen ihrer Mitglieder einnistet. Das muss nicht zwangsläufig und sofort zu einer Erkrankung der Gesellschaft führen. Solange nur wenige Köpfe befallen sind, kann der Faschismus unproblematisch sein. Doch es ist eben Wachsamkeit angezeigt. Die Gesellschaft als Ganzes wie jeder einzelne Kopf muss wirksame Abwehrkräfte haben, um sich gegen das Virus Faschismus zu wehren.
Wie weitreichend und passend die Analogie des Virus für den Faschismus ist, fiel mir bei Lektüre dieses Artikels ein:
Faschismus beginnt im Kopf
Dem Schriftsteller Ignazio Silone wird das folgende Zitat zugeschrieben: „Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin…www.rubikon.news
Faschismus ist ja aber eine “Idee”, ein Glaubenssystem, eine Ansammlung von Prinzipien. Wie passt das zu etwas Körperlichem, etwas Biologischem? Das ist nicht so schwierig und auch nicht unerhört. Dem Gen der Biologie wurde schon das Mem der Psychologie gegenübergestellt. Laut Richard Dawkins will das Gen überleben, das er egoistisch nennt. Dafür schafft es sich Körper, die es erhalten und vervielfältigen. Und in der geistigen Welt ist es das Mem, das überleben will. Susan Blackmore definiert es in “Die Macht der Meme” so:
“[Mem:] Geschichten, Lieder, Gewohnheiten, Fertigkeiten, Erfindungen, Moden, die wir durch Imitation von anderen Menschen übernehmen.”
Der Faschismus ist insofern sicher ein Mem, also ein geistiges Gen, das sich erhalten will. Doch für mich drückt sich darin noch nicht seine Viralität aus. Auch scheint mir Mem eine zu feine oder gar unbestimmte Granularität zu haben.
So wie ein Virus greifbarer, größer ist als ein Gen und viele davon enthält, scheint es mir angebracht, einen Begriff zu finden, der der Größe von Faschismus gerecht wird. Virus (n.) ist Lateinisch für “Schleim, Gift, Geifer”. Das passt auch zum Faschismus, würde ich sagen. Dieser Begriff ist ja nun aber schon vergeben. Was könnte also sonst noch passen? Wie wäre es mit Foetor (m.), Lateinisch für “Gestank”?
Foetor als Analogon im Geistigen zu Virus im Biologischen. Ein Foetor will überleben, ein Foetor besteht aus vielen Memen. Das finde ich nicht ganz schlecht.
Schutz gegen Foetoren
Ich denke, die Analogie ist wirklich weitreichend. Viren infizieren Organismen, indem sie ihre Konstituenten befallen, die Zellen. Foetoren befallen Gesellschaften (als konkretere Form von Gemeinschaft und allgemeinere Form von sozialem System) und darin konkret ihre Mitglieder. Daraufhin verändern Mitglieder ihr Verhalten. Das kann andere anstecken. Eine solche Infektion kann sich ausbreiten. Sie kann die Gesellschaft als ganzes erfassen, so dass deren Verhalten sich ändert. Aber es kann auch die Ausbreitung zum Stillstand kommen und die Gesellschaft gesunden. Die Zahl der befallenen Mitglieder kann wieder abnehmen.
Wie ein Organismus ist eine Gesellschaft zum Glück nicht schutzlos. Sie kann sich gegen Foetoren wehren. Das tut sie, indem sie Organe, Institute und Regeln ausprägt, die es einem Foetor schwerer machen, die Mitglieder überhaupt zu befallen oder sich weiter auszubreiten. Mir fallen als Beispiele für Elemente eines solchen gesellschaftlichen Immunsystems die Meinungsfreiheit oder die Gewaltenteilung oder das Bildungssystem ein.
Soweit ein allgemeines Immunsystem, zu dem auch gehört, dass es selbst lernt. Wie ein natürliches, kann man es stimulieren. Ich denke, ein gesellschaftliches Immunsystem lässt sich durch Übung stärken. Wenn Immunsystem selbst gesund ist, dann ist es sogar antifragil, d.h. es wird mit Belastungen besser und besser. Deshalb ist die Meinungsfreiheit wichtig, die eine grundsätzliche Infektion mit Foetoren möglich macht. Wenn ab und an ein Foetorenbefall stattfindet, kann das Immunsystem sich daran kräftig halten und seine Sensitivität und Spezifizität üben. Insofern: Ein bisschen Faschismus in der Gesellschaft ist gar nicht so übel.
Andererseits lässt sich ein Immunsystem aber auch reizen und lehren, wie es in der Biologie mit Impfstoffen der Fall ist. Mit ihnen werden Viren bzw. deren Bestandteile bewusst in einen Organismus eingebracht, damit das Immunsystem sich in ganz bestimmter Weise wappnet. Das funktioniert bei guten Impfstoffen wunderbar, selbst wenn dabei gelegentlich Impfschäden auftreten. Ohne Risiko keine Weiterentwicklung.
Ebenso bei Gesellschaften in Bezug auf Foetoren, denke ich. Eine Gesellschaft kann sich bewusst mit abgeschwächten Foetoren infizieren. Das sind keine befallenen Menschen, die man als Mitglieder integriert, sondern isolierte Meme, die veröffentlicht werden — und denen gleichzeitig eine negative Wertung beigeordnet wird. Beispiele: im Schulunterricht werden die Greultaten eines Foetors behandelt; es wird ein Gedenktag für die Opfer eines Foetors etabliert; es werden Medienproduktionen beauftragt, die die gefährlichen Effekte des Foetors fühlbar machen.
Schwindender Schutz
Schutz gegen Foetoren ist möglich. Den gibt es allerdings nicht umsonst. Auch er unterliegt dem Grundgesetz der Natur: der allgemeinen Zunahme der Entropie. Ohne, dass immer wieder Energie in den Schutz investiert wird, nimmt er ab. Er erodiert in der allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Ein unvermeidlicher Faktor dabei ist der Tod. Wenn widerstandsfähige Menschen sterben und die nächste Generation weniger widerstandsfähiger sein sollte, dann schwindet die Immunität einer Gesellschaft. Menschen, die einen Foetor selbst (üb)erlebt haben, sind besser geschützt als die, die nur davon gehört haben. Generationenwechsel ist für die Foetorenimmunität ein Problem, das gelöst werden muss.
Ein weiteres ist die richtige Dosis des Impfstoffs. Ist er zu stark, greift der Foetor tatsächlich um sich. Das wird meist vermieden. Ist er aber zu schwach, wird keine Immunität aufgebaut, die einem größeren Angriff/Ausbruch eines Foetors standhält.
Und schließlich ist da die Habituation. Wenn der Impfstoff nicht immer wieder einmal variiert wird, kann es zu einer Abstumpfung ihm gegenüber kommen. Der Reiz, der früher noch gewirkt hat zum Aufbau von Abwehrkräften, ist heute effektlos.
Auch für die Foetoren-Abwehr gilt: Sie geschieht in einem Kontext. Das eine Mittel mag in einem Kontext helfen, in einem anderen tut es das jedoch nicht. Wenn sich der Kontext durch allgemeine Entwicklung der Gesellschaft genügend weit verändert, dann sind die Mittel von gestern zunehmend wirkungslos. Eine Kriegsgeneration braucht andere und weniger Anreize, nicht wieder Krieg zu wollen, als ihre Enkel- oder Urenkelgeneration, die nur Frieden erlebt hat.
Selbst bei unverändertem Foetor kann der Schutz gegen ihn nicht unverändert bleiben! Er muss sich der Veränderung der Gesellschaft anpassen, die womöglich neue Zugänge für denselben Foetor unwillentlich und unwissentlich entstehen lässt.
Überspezifischer Schutz
Im Willen, den Schutz gegen einen Foetor besonders wirksam zu machen, kann es auch passieren — und scheint mir sogar wahrscheinlich — , dass man das Immunsystem zu spezifisch reizt und kalibriert.
Man kann einen Organismus gegen Viren, gegen Influenza-Viren im Allgemeinen oder konkret gegen Influenza-A oder -B stärken. Je unspezifischer die Stärkung, desto breiter der Schutz. Bei breitem Schutz kommt es nicht mehr so genau darauf an, was für ein Virus eindringt.
Umgekehrt wirkt ein sehr spezifischer Schutz z.B. nur gegen Influenza-A nicht, wenn Influenza-B eindringt. Und ein kombinierter Schutz gegen A und B ist unwirksam, wenn ein Rhino- oder Corona-Virus eindringt.
Dito beim Schutz gegen Foetoren. Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung sind für mich Bestandteil eines sehr grundlegenden, unspezifischen Schutzes. Das Verbot einer Partei hingegen wäre viel spezifischer.
Spezifischer Schutz verliert seinen Nutzen, wenn Foetoren sich wandeln. Mutationen sind der Feind von spezifischem Schutz. Und wer weiß schon, wie sich Viren oder Foetoren entwickeln?
Meinem Gefühl nach ist das, was heute als zukünftiger Schutz gegen SARS-CoV-2 in Aussicht gestellt wird, ein sehr spezifischer, sogar überspezifischer Schutz. (Von den unbekannten Impfrisiken ganz zu schweigen.) Ein wesentlich breiterer Schutz — wenn auch nicht so schnell herzustellen — wäre die Umstellung der vorherrschenden Lebensweise. Wo die Hochrisikogruppe aus multimorbiden Menschen besteht, die vor allem an Zivilisationskrankheiten leiden, scheinen mir diese Krankheiten die Ansatzpunkte für breitere Widerstandsfähigkeit zumindest zukünftiger Generationen: Weniger Giftstoffen ausgesetzt sein, bessere Ernährung, mehr bekömmliche Bewegung, weniger Stress. So hört sich das “Impfprogramm” für die Zukunft an, um weniger mit hochspezifischen und bald irrelevanten Impfstoffen Virusbefall “zu reparieren”.
Schwindender Schutz gegen den Foetor Faschismus
Mit Blick auf den Faschismus glaube ich nun, dass das (Deutsche) gesellschaftliche Immunsystem seinen Schutz einerseits zum Teil eingebüßt hat. Der Faschismus des Nationalsozialismus ist für die heutigen Generationen der Enkel und Urenkel ein schwaches Echo aus einem lange vergangenen Jahrhundert. Die an meine Generation vermittelte Dringlichkeit zur Vorsicht und zum Widerstand war noch stark und echt, weil die Erinnerung mehr oder weniger unmittelbar und persönlich in unseren “Lehrern” (in der Schule und außerhalb) wach war.
Andererseits war die Immunisierung gegen den Faschismus immer schon überspezifisch. (Was zur Einbuße des Schutzes beigetragen hat.) Die Immunisierung hat sich über kurz oder lang auf sehr wenige Symptome bzw. Symbole reduziert und auch wohl reduzieren müssen. Die wurden wieder und wieder als “böse” eingebleut, da wurden Abwehrreflexe aufgebaut. Die deutsche Gesellschaft ist allergisch gegen Hitlergruß, Hakenkreuz und Holocaustleugnung. Da hat etwas funktioniert, würde ich sagen. Gut so. Nicht weniger sollte das Ergebnis sein.
Darüber hinaus ist auch Widerwille gegen staatliche Gewalt vieler Formen überhaupt entstanden, allemal militärische. Von den 68ern über die Friedensbewegung bis zur Willkommenskultur von 2015 reicht die Empfindlichkeit, was Grenzziehung und -verteidigung angeht.
Der internationale (vor allem amerikanische) und auch nationale Wille, dem Foetor Faschismus in Deutschland nicht wieder Blut und Boden zur Entwicklung zu bieten, hat Früchte getragen. Als Breitband Virustatikum — oder richtiger wohl hier: Foetostatikum — wurde überdies noch Kapitalismus injiziert, um Platz in den Köpfen zu besetzen, den sonst Faschismus hätte einnehmen können.
So weit, so gut. Nur reicht das nicht mehr. Es hat sogar schon eine ganze Weile nicht mehr gereicht. Der Schwund des Faschismus-Schutzes ist allerdings eher nicht bemerkt worden. Die Gesellschaft hat sich in Sicherheit gewogen. Sie hat geglaubt, final immun zu sein nach 50–60 Jahren Dauerimpfung. Doch dabei hat sie übersehen, dass der Impfstoff nicht verändert wurde, sie selbst sich jedoch stark verändert hat. Und nicht nur sie, sondern die ganze Welt.
Nicht länger drückt sich Faschismus vor allem durch “rechte Gewalt” in Anspielung an den Nationalsozialismus in der Gesellschaft aus. Dieser Foetor scheint ja sogar halbwegs eingedämmt (gewesen) zu sein. Nein, der Foetor Faschismus ist mutiert. Er ist in anderer Form in Köpfe eingedrungen und breitet sich aus. Und darauf war das gesellschaftliche Immunsystem nicht vorbereitet.
Faschismus als Foetor-Familie
Faschismus ist nicht mehr braun, schwingt kein Hakenkreuz und trägt keine Glatze. Die Impfung, die Schulunterricht und Medien und Politik gegen Faschismus vorgenommen haben, ist insofern zu spezifisch und zunehmend nutzlos.
Faschismus, der braun ist, ein Hakenkreuz schwingt und eine Glatze trägt, ist ein nostalgischer Faschismus. Der hat seine Infektiösität über die Jahrzehnte weitgehend eingebüßt. Hier und da bricht er aus, das ist ärgerlich, ein ernsthaftes Problem stellt er jedoch nicht da, glaube ich. Dafür ist er zu dumm. Er merkt nicht, dass das Immunsystem spezifisch gegen ihn gestärkt wurde. Da mag es in einigen Gemeinden auch größere Herde geben, doch aufs Ganze gesehen ist das wenig und durch die restliche Gesellschaft unter Kontrolle. Oder er ist schlau: Denn so kann er überleben. Wie das Herpes-Virus überlebt, weil es eben nicht (mehr) zu starker Krankheit oder Tot führt.
Der Nationalsozialismus ist also der Faschismus von gestern. Gegen den gibt es eine Impfung, so wie es gegen die Influenza-Viren vom letzten Jahr eine Impfung gibt.
So eine “Rückspiegelimpfung”, d.h. eine, bei der man immer nur gegen das impfen kann, das schon war, dessen genaue Charakteristika man kennt, ist vergleichsweise einfach und naheliegend und wohl auch mal nötig. Viel, viel wichtiger wäre es jedoch, ganz fundamental zu impfen bzw. das Immunsystem zu stärken. Solche Maßnahmen würden sich allerdings auf allgemeinere Charakteristika beziehen. Die Foetor-Familie Faschismus wäre im Visier, nicht nur stellvertretend eine seiner Arten wie der Nationalsozialismus. Für mich stellt sich das als Hierarchie dar:
Gegen die konkreten Faschismus-Arten mit ihren Flaggen wurde Schutz aufgebaut, der auch noch durchaus, wenn auch schwächer werdend wirksam ist. Doch gegen das Fragezeichen wurde nichts getan. Das heißt, auf der höheren Ebene, der der Familie, nicht der Art, besteht nur schwacher Schutz. Umso schwächer ist er, je stärker die Mutationen der Faschismen voranschreiten.
Wie im Artikel zitiert, ist der Faschismus sehr flexibel:
„Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus“, Ignazio Silone
Wenn nicht Anstrengungen zur allgemeineren Stärkung des Immunsystems gegen Ideologien unternommen werden und wenn nicht allgemeiner gegen die Foetor-Familie Faschismus geimpft wird, dann wird die Gesellschaft anfällig. Sie verliert über den Generationenwechsel die Anschauung. Faschismus wird für sie zu einem Abstraktum, das lediglich in der Geschichte und in fernen Ländern zu finden ist — oder bei einigen ewig gestrigen Mitgliedern der Gesellschaft, die man mit wohligem Schauern bei Youtube aus der Ferne bestaunen kann.
Ohne eine Änderung der Immunisierungsstrategie der Gesellschaft, halte ich die Gefahr für groß, dass sie dem Faschismus näher und näher rückt. Die Gesellschaft “faschistisiert” sich quasi selbst. Weil sie nicht weiß, was Faschismus ist, sondern nur den Nationalsozialismus aus der Ferne kennt, bemerkt sie nicht, dass der Foetor sich mutiert in ihr ausbreitet.
Mein Faschismus-Destillat
Was ist denn nun aber Faschismus als Foetor im Allgemeinen? Was Nationalsozialismus im Konkreten war, steht ja noch manchen ungefähr vor Augen. Für mich sind demgegenüber Zeichen des darüber liegenden allgemeinen Faschismus u.a. diese:
Der Faschismus stellt eine Gemeinschaft von Menschen, die gewisse formale Kriterien teilen, über alle anderen. Dieser Gemeinschaft geht es in der Gegenwart schlecht: sie ist in ihrer Identität geschwächt. Der Faschismus wird dafür sorgen, dass es ihr in der Zukunft besser geht.
Der Faschismus weiß an der Spitze, wie es der Gemeinschaft besser gehen kann. Das muss die Gemeinschaft nicht mehr selbst herausfinden. Im Faschismus herrscht grundlegend Fürsorge für die Gemeinschaftsmitglieder von oben. Umgekehrt herrscht Gehorsam der Gemeinschaftsmitglieder gegenüber der Führung des Faschismus.
Die Zugehörigkeit zur faschistischen Gemeinschaft ist binär. Grauzone, Argumentation, Diskurs, das ist dem Faschismus fremd. Zugehörigkeit zu erringen, zu bewahren, hervorzuheben, ist deshalb wichtig für jeden Einzelnen im Faschismus.
Wenn man formal zur Gemeinschaft gehört, dann muss man den Codex des Faschismus einhalten. Auch das ist binär: man tut es oder nicht. Faschismus ist insofern hochmoralisch. Faschismus definiert eine Dualität. Er ist gut, die Verhältnisse und der Feind sind böse. Das fördert eine Angleichung bis Gleichschaltung aller Mitglieder der faschistischen Gemeinschaft. Alle wollen “richtig sein”.
Wer nicht zur Gemeinschaft gehört, wer sich der Entwicklung der Gemeinschaft entgegenstellt, der ist böse. Der ist sogar im Grunde kein Mensch, zumindest steht er auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe. Entmenschlichung in Wort und Bild gehört zum Faschismus.
Der Faschismus ist insofern natürlich totalitär, als dass es eine klare Herrschaftshierarchie gibt. Ausgangspunkt dafür ist jedoch eine Leidensgemeinschaft, die vom Faschismus “ins Licht geführt wird” (oder ihren “Platz an der Sonne” zumindest behauptet). Es ist nicht ein Einzelner, der schlicht die Macht an sich reißt und totalitär herrscht. Vielmehr ist die Führungsriege ganz klar moralisch legitimiert: es sind die Guten, die Richtigen, die das Wohl aller Gemeinschaftsmitglieder wollen. Im Grunde herrscht im Faschismus “der gute König”.
Der Foetor Kommunismus geht zwar auch von einer Gemeinschaft aus, doch ihm fehlt zumindest von der Idee her die Hierarchie. Im Kommunismus gibt es einen Traum von Gleichheit, scheint mir. Damit gibt sich der Faschismus nicht ab. Deshalb ist der Kommunismus auch der Urfeind des Faschismus: der Kommunismus bedroht die Definitionsgrundlage des Faschismus, dass es Oben und Unten gibt.
Der real existierende Kommunismus sieht natürlich anders aus. Er ist sich immer untreu geworden. Der Faschismus nicht. Er ist stets aufrecht untergegangen in der Gewissheit, dass es richtig war in Form und Inhalt, was er getan hat.
Der Faschismus leidet auch nicht an einem Zielkonflikt. Er ist auf Identität aufgebaut und insofern steckt ihm Egoismus und auch Wettbewerb im Blut. Er ist damit effizient, weil er unterstützt, sowohl für sich, wie für die Gemeinschaft tätig zu sein — solange die Dualität nicht in Frage gestellt wird.
Der Kommunismus hingegen leidet darunter, mit Identitäten umgehen zu müssen, die für sich und ihre Liebsten das Beste wollen, gleichzeitig jedoch diese Identität nicht wirklich ins Feld führen dürfen, weil ja alle gleich sein sollen.
Der Faschismus betont Identität, der Kommunismus verneint Identität.
Faschismus der Gegenwart
Im Faschismus steckt, was in allen Menschen steckt. Klarheit, Zugehörigkeit, Wertschätzung, Fürsorge, Grenzziehung, Kontrolle durch Hierarchie und mehr schätzen die Mitglieder einer Gesellschaft gewöhnlich ganz grundlegend. Dessen bedient sich der Faschismus, glaube ich. Das macht ihn so perfide. Deshalb findet er immer wieder Einfallstore — und vor allem in der heutigen Zeit, die so auf Individualität setzte, d.h. auf Identität.
Wo Identitäten unter Druck stehen, wo es also letztlich an Respekt mangelt, da ist der Nährboden für Faschismus gut.
Kommunismus gedeiht in materiellen Mangelverhältnissen. Da wird den Leidenden versprochen, dass sie es zusammen in Solidarität besser haben werden. Der materielle Mangel ist Willkürlich hergestellt durch wenige Besitzende. Dem kann durch den Kollektiven Besitz abgeholfen werden.
Faschismus hingegen gedeiht dort, wo Menschen unter mangelndem Respekt leiden. Sie fühlen sich in ihrem So-sein, in ihrem natürlichen Recht beschnitten und ignoriert. Sie haben quasi naturrechtlich etwas anderes verdient.
Der Faschismus richtet sich an Gekränkte. Der Kommunismus richtet sich an Geknechtete.
Die heutigen Zeiten scheinen mir nun solche zu sein, in denen im Grunde kein Mangel herrscht (in der westlichen Welt). Konkret auf Deutschland bezogen: Niemand verhungert, niemand muss 16 Stunden in einer Fabrik als Minderjähriger schuften. Natürlich gibt es Armut in Deutschland, doch die ist rein materiell-existenziell gesehen auf sehr hohem Niveau. Kein Vergleich mit Armut in Indien oder Afrika. Wer zu einer Tafel gehen muss, um zu essen zu haben, kann wenigstens zu einer Tafel gehen. Es gibt keine verhungerten Obdachlosen in Deutschland. Das ist anders in anderen Ländern.
An Materiellem mangelt es nicht, wohl aber am Seelischen, am Emotionalen. Psychische Armut ist weiter verbreitet in Deutschland als materielle. Seelischer Hunger macht auch vor einem materiell reichen Haushalt nicht Halt.
Und dieser Mangel ist keiner, den die Gesellschaft auf die leichte Schulter nehmen sollte. Das gehört für mich zum grundlegenden Immunsystem gegen den Faschismus. Denn wo emotionaler Mangel herrscht, da herrscht er vor allem im Verborgenen. Materieller Mangel ist gut sichtbar, seelischer nicht. So kann sich seelische Armut schleichend ausbreiten. Sie entsteht aus Stress und sie ist Stress. Sie erzeugt Frust, sie wird aus Frust erzeugt. Sie macht ärgerlich, sie macht wütend.
Gleichzeitig ist sie sehr offen für Trost. Sie will ja gesehen und geteilt werden. Ob das Problem gelöst werden kann, ist sogar erstmal zweitrangig. Hauptsache, die Seele findet einen Verwandten. Wo ist der, der auch so leidet? Wo ist der, der das Leiden versteht? Das ist der mindestes Respekt, der im emotionalen Mangel nötig ist: Dass jemand anderes sieht, dass man leidet und auch noch zurecht. Je weniger das Leiden dann selbst verschuldet ist, desto besser.
Mir scheint das lang unterdrücke seelische Leiden in Deutschland gigantisch. In den sozialen Medien bricht sich das Bahn in Hasstiraden. Auf der Straße zeigt es sich in Form von Denunziation und Blockwartschaft. In der Politik drückt es sich durch “extreme” Parteien aus. Der Kampf ums Recht ist überall ausgebrochen.
Die seelisch ständig zu kurz Gekommenen sind müde. Sie haben keine Abwehrkräfte mehr gegen nichts. Alles, was an einem mühsam errungenen status quo rüttelt, ist ihnen deshalb eine Last — und ein weiterer Beweis für den mangelnden Respekt, den sie in ihrer Lage genießen.
So sieht der Boden für Faschismus für mich aus. Kein Hakenkreuz, kein Hitlergruß, keine Glatze weit und breit. Die Disrespektierten versammeln sich einfach unter Identitäten, innerhalb derer sie sich respektiert fühlen und die sie durch klarste Moralvorstellungen gegen andere Identitäten verteidigen. In der Gruppenidentität fordern sie dann Respekt vom Rest der Gesellschaft ein.
Dass alle gleich seien am Ende, ist nicht ihre Vision. Die Disrespektierten sind keine Kommunisten. Dass sie endlich aufsteigen, gesehen, respektiert, akzeptiert, wertgeschätzt werden in ihrer ganzen Eigenheit und Rechtschaffenheit, das ist ihre Vision. Sie wollen ihre Identität behalten, nicht aufgeben und aufgehen in etwas anderem.
Der Faschismus der Gegenwart schlägt dort Wurzeln, wo endlich Gerechtigkeit herrschen soll. Wo es um Recht geht. Zu erkennen ist er deshalb wieder und immer noch an der Moral, die er wie ein Messer führt. Damit werden die Richtigen von den Falschen getrennt — und am besten die Falschen auch noch erstochen (oder zumindest ins Exil gedrohnt).
Je geringer der Diskurswille, je schwächer die Ambiguitätstoleranz, je klarer die Front, je unflätiger die Zurückweisung anders Denkender, je proaktiver das Anprangern anders Denkender, desto weiter ist der Faschismus fortgeschritten. Die Disrespektierten wehren sich als erstes mit Disrespekt.
Wichtig ist dabei zu verstehen, dass der Faschismus an sich “leer ist”. Deshalb kann er sich auch als Antifaschismus zeigen. Das ist keine Lüge, keine Verkleidung. Der Faschismus kann in jedem Namen daherkommen: im Namen der Rasse, im Namen des Klimaschutzes, im Namen der Gesundheit, im Namen des Kindeswohls, im Namen der Liebe, im Namen der Selbstbestimmung usw.
Der Foetor Faschismus in Form des Nationalsozialismus war sehr verbunden mit Bildern von Stärke, Angriff, Männlichkeit. Doch das ist eben nur eine Art von Faschismus. Faschismus ist nicht auf einen Inhalt festgelegt. Wenn er sich besser ausbreitet, indem er sich um Schwäche kümmert, beschützt, fürsorglich ist, Weiblichkeit aufruft, dann wählt er diese Bilder und Inhalte. Radikale Moral lässt sich mit allem verbinden.
Den Faschismus erkennt man deshalb nicht am Inhalt! Darauf darf sich ein gesellschaftliches Immunsystem nicht zu sehr festlegen.
Faschismus ist an der Form erkennbar. In ihr ist das Natürliche quasi übertrieben, würde ich sagen:
Übertriebene Identität
Übertriebene Wahrheit
Übertriebene Autorität
Übertriebene Zugehörigkeit
Übertriebene Abneigung
Der Faschismus heute ist nicht ein Faschismus, es sind viele. Deshalb lohnt ihre einzelne Benennung auch nicht. Von der Foetor-Art muss der Blick zur Familie Foetor wechseln. Und in Corona-Zeiten hat der Faschismus seinen Schritt beschleunigt.
Totalitarismus kann von oben wachsen, also aufgezwungen werden. Faschismus jedoch wächst vor allem von unten. Der wird von den Gesellschaftsmitgliedern gewollt. Er ist eben ein Foetor, der Köpfe befällt und kein Faustschlag ins Gesicht. Umso mehr ist deshalb auch jeder Einzelne aufgerufen, sensibel für die Anzeichen eines Befalls zu sein. Je früher Faschismus erkannt wird, desto größer die Heilungschancen. Hat er sich aber erst tief im moralischen Dogma verankert, herrscht Selbstimmunisierung gegen Heilungsversuche.