Erwachsen sein, jetzt!
Die COVID-19 Krise gibt uns gute Gelegenheit dazu, darüber nachzudenken, was es bedeutet wahrlich erwachsen zu sein. Denn dieser Zustand…
Die COVID-19 Krise gibt uns gute Gelegenheit dazu, darüber nachzudenken, was es bedeutet wahrlich erwachsen zu sein. Denn dieser Zustand stellt sich, so scheint es, nicht für alle mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein.
Neulich hatte ich mir Gedanken dazu gemacht, wie COVID-19 uns als Gesellschaft einen Spiegel vor Augen hält: Wir müssen erkennen, dass wir nicht nachhaltig mit unseren Körpern umgehen, wenn SARS-CoV-2 angeblich massenweise Deutsche Bürger dahinrafft und das vor allem, wenn diese mehrfache vor allem an Zivilisationsleiden vorerkrankt sind.
Darauf antwortete ein facebook-Benutzer
… ich kann nichts für meine Diabetes Typ 1 …
was mich zu der Nachfrage veranlasste, was das in diesen Tagen für die Mitbürger um ihn herum bedeuten solle.
Darauf erhielt ich dann nicht vom Diabeteskranken, sondern einem anderen hilfreichen facebook-Benutzer diese Antwort:
Es soll bedeuten, daß Ihr soziale Verantwortung entwickelt. Kann man auch Solidarität nennen oder Erwachsenheit.
Ich erkenne an, dass das noch recht freundlich formuliert war. Dennoch habe ich mich nicht in meiner Ernsthaftigkeit gewürdigt gefühlt. Ist man denn, wenn man sich kritische Gedanken macht, nicht erwachsen? Ist man denn, weil man eine Maskenpflicht für unangemessen hält, unsozial? Meine Antworte lautet darauf Nein und das kommt so:
Was für mich Erwachsenheit bedeutet
Erwachsenheit bedeutet für mich — wie Eltern wissen, die Kinder in dieselbe entlassen — die Übernahme von Selbst-Verantwortung! Das ist ja der Trick an Erwachsenheit: eigene Entscheidungen, eigene Verantwortung.
Zum Erwachsensein gehört dazu, dass man Risiken selbst einschätzt. Überschätzt man sich dann, hat man — sorry to say — selbst Schuld. Beispiel: In Sandalen auf den Berg steigen und sich den Knöchel brechen? Selbst Schuld. Oder während man aufs Handy starrt über die Straße gehen und überfahren werden? Selbst Schuld. Oder nach dem 3. Kind, das schon die Ehe auf die Probe gestellt hat, ein 4. — mit dem alles auseinander fliegt? Selbst Schuld.
Dass sich ein Erwachsener überschätzt, passiert. Shit happens. Man mag dann auch Mitgefühl haben, wenn der Effekt sehr negativ ausfällt. Das ändert aber nichts an der Verantwortungslage. Zum Erwachsensein gehört auch dazu, anderen selbstverursachtes Leiden zuzugestehen. Dieses Leiden soll natürlich gelindert werden, doch es muss entstehen dürfen. Anders findet kein Lernen, kein Wachstum, kein Erwachsen statt.
Und weil Erwachsenheit ist, wie sie ist, d.h. dass Erwachsene vor allem erstmal Selbstverantwortung haben, ist auch nicht unsozial, wer nicht proaktiv dem anderen Erwachsenen Verantwortung abnimmt oder sich nicht ständig erkundigt, wo denn noch etwas Hilfe erwünscht sei.
Wenn Erwachsene sich außerstande sehen, selbst ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen, können sie bitten. „Entschuldigung, könnten Sie mir von da oben etwas herunterholen? Ich reiche da nicht heran.“
Dass bei offensichtlichem (!) Fähigkeitsmangel auch proaktiv ein Gefallen angeboten werden kann, steht dem nicht im Wege. Das nennt man Höflichkeit. „Soll ich ihnen die Tür aufhalten? Mit ihrem Gepäck haben sie es da sonst schwer.“
Diejenigen, die einer Situation nicht mächtig sind, sind jedoch quasi per definitionem immer wenige. Man bringt sich als Erwachsener nicht ständig in überfordernde Situationen, wenn man es vermeiden kann.
Eine Gesellschaft, in der die meisten meistens über ihr Vermögen leben, kann auch einfach nicht funktionieren. (Mit “Vermögen” meine ich hier auch ganz bewusst sowohl persönliche Fähigkeiten wie finanzielle Mittel. Erwachsensein bringt Verantwortungsbewusstsein für beide Sphären mit sich.)
Deshalb muss ich auch nicht durch die Gegend laufen und ständig andere fragen, ob noch etwas zu helfen sei. Die wenigen, wo das der Fall sein sollte, werden es mir anzeigen. Dann helfe ich gern. Das ist sozial, höflich.
Selbstverwantwortung in Zeiten von COVID-19
Und nun COVID-19: Ich übernehme Selbstverantwortung! Man zeigt mir eine Lage auf, ich schätze deren Risiko für mich ein und verhalte mich entsprechend meinen Fähigkeiten.
COVID-19 unterscheidet sich nicht grundsätzlich von anderen “Umweltzuständen” wie Klima, Lärm, Luftqulität, Grippeviren, Alkoholisierungsgrad von Kneipenbesuchern, Autoverkehr usw. usf. Wenn mir ein Umweltzustand nicht behagt, dann entziehe ich mich ihm.
Wenn ich 84 und multimorbide bin, bleibe ich vllt zuhause und bitte (!) andere, mir zu helfen.
Wenn ich 68 bin und noch rüstig, aber trotzdem angstvoll, dann gehe ich mit Mundschutz raus und bitte (!) andere ggf. um Abstand.
In keinem der Fälle habe ich aber ein Recht darauf, dass andere mir zu Willen sind. Ich darf mir etwas wünschen und die Erfahrung zeigt, dass der Wunsch erfüllt wird, aber die anderen haben keine Pflicht, sich meiner mangelnden Kompensationsfähigkeit unterzuordnen. Es gibt keine Bringschuld für andere, wenn ich mich schwach fühle. Es sei denn, andere haben sich freiwillig in eine Rolle begeben und (nach meiner Bitte) für mich die Verantwortung übernommen. Solche Rollen werden gewöhnlich ganz bewusst von anderen gewählt; das sind z.B. Pfleger oder Vormunde oder Eltern.
Und jetzt Maskenpflicht: Die Verhältnisse werden hier drastisch umgekehrt. Die Regierung bestimmt plötzlich jeden zum Fürsorgepflichtigen. Eine kleine Minderheit — die Risikogruppe — ist plötzlich landesweit unter Obhut der Majorität gestellt.
Rollstuhlfahrer sind auch eine Minderheit, aber eine gut erkennbare, der man gern ggf. zur Hand geht. Für die habe ich aber keine Verantwortung und keine Pflicht. Bei der COVID-19-Risikominderheit kann ich nicht mal erkennen, wer ihr angehört. Dennoch, nein, deshalb soll ich mich jedem anderen Bürger gegenüber so verhalten, als gehöre er der Risikogruppe an? Was ist das für eine Entmündigung der Risikogruppenmitglieder? Was ist das für eine Entmündigung all derer, die nicht zur Risikogruppe gehören?
Kollektive Entmündigung
Kontaktverbot und Maskenpflicht erklären und unmündig und berauben uns grundsätzlicher Freiheiten!
“Die Würde des Menschen ist in jeder Hölle ein unverzichtbarer Wert und die Freiheit ist nicht viel weniger als das Leben selbst.”, Oleg Kaschin
Mit Masken werden knapp 83.000.000 Deutsche in die Pflicht genommen, einer nicht erkennbaren und unbekannten Minderheit proaktiv den Vorrang zu geben. Und das nicht nur in sehr spezifischen Situationen, sondern immer und überall. Ja, immer und überall, denn schon das Kontaktverbot ist ja eine Pflicht zur Rücksichtnahme. Es wird nicht gefragt, ob ich mich schützen will, sondern verordnet, dass ich andere schütze — ob die das wollen oder nicht. Selbst im Konsens darf man sich ja nicht versammeln!
Das ist nicht solidarisch. Das ist Demokratie auf den Kopf gestellt! Das ist die Herrschaft der Minderheit, sogar der anonymen Minderheit.
Das nenne ich unsolidarisch von Seiten der Minderheit! Denn Höflichkeit oder Mitdenken ist keine Einbahnstraße! Es mag unerhört klingen, aber als Minderheit darf man auch sagen: „Danke für Ihr Angebot. Aber machen sie sich keine Mühe.“ Denn auch Minderheiten und Schwache sind erwachsen und dürfen entscheiden, keine Hilfe anzunehmen. Das ist dann zu respektieren.
Aber darin ist unsere Gesellschaft ja schlecht. Die traut Schwachen so etwas nicht zu. Wer z.B. am Lebensende sterben will, der darf das nicht entscheiden. Dem bleibt nur das Leiden im und am System — oder die Bahnstrecke als Ausweg.
Wie viele an der Corona-Fürsorge in Altenheimen heute leiden und sich weniger wünschen, aber nicht bekommen, weil man ihnen ihr Erwachsensein abspricht, wird wohl ungezählt bleiben. Die Freiheitsberaubung beginnt nicht erst beim Fixieren.
Den Vorwurf, unsozial und nicht erwachsen zu sein, weise ich hiermit wohl überlegt und begründet zurück.
P.S.
Es mag sich so anhören, als sei ich kein Befürworter von Führerscheinpflicht oder die Strafverfolgung unterlassener Hilfeleistung.
Doch, dafür bin ich. Natürlich kann, soll, muss es Verbote in einer Gesellschaft geben. Es gibt Situationen, denen kann ich bei allem Risikobewusstsein und mangelnder Kompensationsfähigkeit nicht entziehen. Oder sie treten unkontrolliert ein.
Für diese Situationen brauchen wir Regeln, auf deren Einhaltung ich als “Schwächerer” mit hoher Wahrscheinlichkeit setzen kann. Diese Regeln sind jedoch über lange Zeit mehr oder weniger explizit ausgehandelt worden. Das nennt sich auch Kultur. Zu der gehört z.B. unser Grundgesetz oder unsere Sprache.
Ein aktuelles Beispiel für eine Verschiebung in dieser Hinsicht ist das Rauchverbot in Lokalen. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich das durchgesetzt hat. Und damit scheint nun ein Kompromiss gefunden zwischen Selbstverantwortung und Freiheit. Wer rauchen will in Selbstverantwortung für seine Gesundheit, darf das tun. Wer nicht mitrauchen will, kann jetzt aber auch Lokale aufsuchen, ohne Gefahr zu laufen, von Rauch belästigt zu werden, ohne dafür einen Aufstand machen zu müssen. Auf Parties ist die Lage noch anders.
Kontaktverbot und Maskenpflicht sind jedoch weit, weit, weit jenseits solch gradueller kultureller Entwicklungen. Darüber gab es keinen Konsensprozess. Natürlich nicht, mag man einwenden; die Gefahr war zu groß und zu plötzlich.
Gerade deshalb ist die Verantwortung demokratischer Regierungen ja aber umso größer, eben nicht pauschale Verbote auch noch auf unbestimmte Zeit zu verhängen. Es ist selbstverständlich zuerst zu versuchen, dass Selbstverantwortung geübt wird, weil demokratische Bürger als erwachsen angesehen werden.
Es muss die Mündigkeitsvermutung gelten.
Deshalb ist dem Gebot der Vorzug gegenüber dem Verbot zu geben. Und zwar so lange wie es irgend geht.