Die Angst der Geimpften
2021 haben nicht die Ungeimpften Angst vor COVID-19, sondern die Geimpften. Verrückt, oder?
2021 haben nicht die Ungeimpften Angst vor COVID-19, sondern die Geimpften. Verrückt, oder?
In einem Facebook-Thread habe ich gerade dies von einer Impfbefürworterin gelesen: “Mein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist da eingeschränkt, wo das Gesundheitswesen so überlastet ist, dass ich nicht mehr behandelt werden kann.”
Sie hat also keine Angst vor einem Impfdurchbruch. Sie hat auch keine Angst davor, dass “die Schwächsten” durch notorische Impfgegner gefährdet würden — oder durch infizierte Geimpfte oder Haustiere. Nein, sie hat immer noch dieselbe Angst wie 2020 als die Pandemie losging: Es könnten Massen an COVID-19 Erkrankten die Intensivstationen des Landes verstopfen, wenn sie doch auch ein Intensivbett z.B. wegen eines Autounfalls oder eines Schlaganfalls brauchen könnte.
Dieses Argument für eine Impfung im September 2021 mit Impfquote >62% hat mich dann doch arg überrascht.
Ein Blick auf die Intensivbettenbelegung:
Seit Beginn der Aufzeichnungen ist die Belegung der Intensivbetten nahezu konstant.
Wie kann das denn sein? Da ist das Land durch massive Wellen der (festgestellten) SARS-CoV-2 Infektionen gegangen:
Und das hat bei den Intensivbetten zu keinem ähnlich deutlichen Ausschlag bei der Belegung geführt? Erstaunlich! Trotz aller eingeschränkenden, blockierenden, begrenzenden, unterdrückenden Maßnahmen hätte ich doch angenommen, dass bei solchen Infektionsspitzen sich entsprechende Belegungsspitzen abzeichnen würden. Doch davon keine Spur. Die Belegung schwankt wöchentlich und auch ansonsten etwas; aber da reden wir von ca. 1500 Belegungen nach oben und nach unten um einen recht stabilen Mittelwert herum, also über eine Schwankung von ca. 7,5% — während es bei den Infektionszahlen ganz anders aussieht.
Die schon vorhandenen, also nicht nur einfach möglichen, nein, die vorhandenen Infektionen waren im Dezember 2020 mit ca. 30.000 gegenüber ca. 1.100 im September 30 (!) Mal so hoch — doch es waren im Dezember 2020 ca. 20.500 Intensivbetten belegt und im September im Grunde genauso viele mit ca. 20.300.
Wie kann das sein?
Aber vielleicht ist die Frage gar nicht so wichtig für die Geimpften. Wichtiger sollte die Erkenntnis sein: Egal, wieviele Infizierte es gab, es war immer noch ein Bett frei auf der Intensivstation. Deren Freikapazität war nämlich gewöhnlich ca. >15%.
Nur im Extremfall, im April 2021, schrumpft der hellblaue Bereich auf 2.693 freie Intensivbetten; von 23.958 gemeldeten Intensivbetten waren das 11%. Schlimmer war es jedoch nie. Und das bei immer noch ca. 25.000 gefundenen Infizierten.
Die Bettenbelegung ist quasi konstant gewesen — allerdings ist die Bettenkapazität gesunken. Wie kann das denn sein in einer Pandemie? Die Krankenhäuser halten weniger vor, wenn der Bedarf doch jederzeit durch die Decke gehen kann?
Im Juli 2020 waren noch knapp 11.000 Betten frei, ab August noch ca. 8.000 und erst ab Januar 2021 war der Wert bei 3.000 bis 4.000. Wie gesagt, an einer steigenden Bettenbelegung kann das nicht gelegen haben. Die Zahl der der gemeldeten Belegegung gegenüberstehenden Bettenzahl ist schlicht gesunken. Bettenabbau in der Pandemie!
Schon merkwürdig, oder? Wurden 2020 einfach pauschal zu viele Betten gemeldet, war man beim Personalschlüssel zu leichtsinnig und ist der nun realistischer? Oder gibt es nicht weniger Betten und man meldet einfach nur weniger, weil eine hohe Auslastung irgendwie einen Vorteil verspricht?
Einerlei. Jedenfalls ist die Bettenbelegung immer noch nahezu unverändert und es gibt stets Freikapazitäten.
Woher also die Angst der Geimpften? Mit einer gesellschaftlichen Knappheitserfahrung kann die nichts zu tun haben. Die ist aus der Statistik nicht abzulesen.
Dazu sollte doch auch noch der Fortschritt beim Impfen gerechnet werden.
Noch nie waren so viele geimpft wie heute. >62% der Bevölkerung sind vollständig geimpft. War früher die Angst vor einer Abweisung an der Tür der Intensivstation womöglich berechtigt, als noch 100% der Bevölkerung ungeimpft war, sollten die verbleibenden 37% doch nun keine Gefahr der Überlastung mehr darstellen.
Das die Impfquote auch keinen oder nur einen marginalen Efffekt auf die Entlastung der Intensivbettenbelegung ausübt, verwundert mich allerdings. Wenn die Intensivstationen bevölkert sich von COVID-19 Patienten, dann sollten es jetzt 62% weniger sein. Oder? Die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren und zu erkranken, ändert sich ja nicht. Wenn das Virus 63% weniger potenzielle Opfer hat, sollten auch 63% weniger Intensivpatienten wegen COVID-19 in einem Intensivbett liegen.
Und vielleicht sieht man das auch in den Bettenbelegung? Am 1.8.2021 sind 22.223 Intensivbetten gemeldet, davon sind 17,5% frei. Zeit zum Aufatmen für die Geimpften, oder?
Denn dass die Intensivbettenbelegung unter 75%-80% je sinken könnte, ist nicht anzunehmen. Größere Freikapazitäten sind einfach für Krankenhäuser nicht wirtschaftlich. Schon im Februar 2020 hat eine Studien gezeigt, was “normal” ist:
In dem betrachteten Zeitraum lagen die monatlichen Auslastungsraten kontinuierlich über der idealen Auslastungsrate von 80 % und zum Teil sogar über 100 %.
Worauf wollen ängstliche Geimpfte also noch warten? Was wollen sie noch von den Ungeimpften fordern? Soll Deutschland Impfweltmeister werden mit >82% Impfquote? Entspannen sie sich, wenn nicht mehr 37%, sondern nur noch 17% ungeimpft sind? Oder ist auch das noch nicht genug?
Und was ist mit der saisonalen Belastung durch Grippekranke? Wird die Grippeimpfung nun auch zur Solidaritätspflicht, um die Angst vor Bettenknappheit zu befriedigen?
Ich finde diese Angst der Geimpften seltsam. Und ich befürchte, dass sie letztlich unersättlich ist. Sie kommt ja mit keiner Definition, was denn genug wäre.
Das erinnert mich an Zwangs- und Angststörungen. Das Waschen, Ordnen, Vermeiden ist im Zweifelsfall immer noch zu wenig. Um auf Nummer Sicher zu gehen, kann man stets noch ein bisschen drauflegen. Eine Spirale der Verengung des Lebens hat eingesetzt.
Natürlich hat jeder das Recht, Angst zu haben, wie er mag. Ich will niemandem die Angst vor großen Plätzen oder Höhe oder Kontakt mit Fremden oder Oberflächen in der Öffentlichkeit nehmen. Wer von solchen Ängsten geplagt ist, hat kein glückliches Leben und verdient Mitgefühl.
Allerdings: Wenn das Recht der einen auf Angst dann mein Recht auf Angstfreiheit oder auch das auf Versammlungfreiheit oder Unversehrtheit einschränkt… dann kommt mein Mitgefühl an eine Grenze.
Es gibt genügend Ängste, die Geimpfte auch 2021 noch haben können.
Sie können vor Krankenhauskeim-Infektionen Angst haben. Immerhin sterben daran jedes Jahr ca. 20.000 Menschen in deutschen Krankenhäusern.
Sie können auch vor iatrogenen Schäden Angst haben, d.h. Schädigungen die durch eine medizinische Behandlung eintreten. Immerhin sind das jedes Jahr auch ca. 11.000, die zu Verhandlungen führen.
Sie können auch vor einem weiteren Abbau der allgemeinen Krankenhausbettenkapazität (inkl. Intensivbetten) Angst haben. Immerhin sind das heute 30% weniger als Anfang der 80er und 11% weniger seit Beginn der Merkel-Regierung. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern steht Deutschland hier immer noch gut da. (Welche Angst müsste ein Geimpfter in Schweden haben, wo es nur 25% der Bettenanzahl gibt?) Doch der Bettenabbau ist eben deutlich.

Das Gesundheitssystem selbst könnte also dem Geimpften Angst machen. Das würde ich verstehen.
Und wenn man dann noch die Lebensweise der Menschen dazu nimmt, die sich nicht in Richtung geringerer Belastung des Gesundheitssystems zu entwickeln scheint was Ernährung, Bewegung, Sucht, Umweltbelastung angeht… dann gibt es einigen Anlass, sich vor einer Reduktion der Behandlungskapazität des Gesundheitssystems steigenden, steuerfinanzierten Kosten zu ängstigen.
Doch das wird dem geimpften Angstvollen keinen Trost und keine Ablenkung bieten. Er/Sie steckt schon im “COVID-19 Angstzwang”, befürchte ich. Da ist mit guten Worten nichts mehr zu erreichen. Diese Angst muss entweder auslaufen — oder wird sich in der einen oder anderen Form selbst zerstören.
Es tut mir leid für jeden Geimpften, der nicht zur Ruhe kommt. Doch da nun allen ein Impfangebot gemacht ist, muss auch der Geimpfte zur Ruhe kommen und akzeptieren, dass es auch in einer Demokratie unterschiedliche Meinungen auszuhalten gilt. Wenn ca. 2/3 schon dafür zu sein scheinen, können auch 1/3 dagegen sein. So ist das eben — auch, ja, auch, wenn der angstvolle Geimpfte meint, dass die 1/3 ihn noch indirekt bedrohen. Dann ist es seine Pflicht, die Ressource auszubauen, die vermeintlich überlastet werden könnte: das Gesundheitssystem.
Denn: Die erste Bürgerpflicht ist nicht Angst zu haben oder gesund zu sein oder solidarisch, sondern in einem freiheitlich-demokratischen Staat dafür einzutreten, die Freiheiten stets zu maximieren.