Vom Versagen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
In einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung hat die Regierung zwei vornehme und unverbrüchliche Aufgaben:
In einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung hat die Regierung zwei vornehme und unverbrüchliche Aufgaben:
die Freiheit des Einzelnen zu schützen und
Entscheidungen tatsächlich nah am Willen der Mehrheit des Volkes zu treffen.
Warum sonst sollte das Fundament (Grundordnung) einer Gesellschaft “freiheitlich” und auch noch “demokratisch” genannt werden, wenn nicht beides aufrechtzuerhalten und zu vermehren das ständige Bestreben sein sollte?
Was bedeutet eine solche Grundordnung nun aber z.B. für das in Pandemie-Zeiten überaus wichtige Gesundheitssystem?
Als Ressource ist das Gesundheitssystem allgemein so auszulegen, dass es der Bevölkerung maximale Freiheit gestattet — natürlich in Balance mit anderen Bereichen des Lebens, zum Beispiel des Wohnens oder der Mobilität oder der Altersversorgung. Es kann nicht das gesamte Geld nur ins Gesundheitssystem oder in ein anderes fließen. Das muss abgewogen werden und sich der Entwicklung von Welt und Gesellschaft anpassen.
Das Gesundheitssystem wie alle anderen gesellschaftlichen/staatlichen Systeme wird also mit einer gewissen Kapazität ausgelegt. Diese Kapazität entspricht dem aktuellen normalen Bedarf plus einem Puffer.
Auf diese Weise kann jeder Bürger sein Leben frei gestalten. Er kann essen, was er will; sie kann trinken, was sie will; er kann Sport machen, wie er will; sie kann sich der Sonne aussetzen, wie sie will usw. usf.
Das Gesundheitssystem wird von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eingerahmt; es hat ihr zu dienen — nicht umgekehrt.
Bei Unfall oder Krankheit steht das Gesundheitssystem dann für die “Reparatur” zur Verfügung; es soll stets Freikapazität haben, um dem Bürger in Not zu helfen.
Bürger können ja nicht alle Risiken perfekt einschätzen oder selbst wenn, kann irgendwas schief gehen. Kontingenz! Was will man machen? Wohlstand bedeutet, dass man Kontingenz besser aushalten kann; eine freiheitlich-demokratische Grundordnung hat sozusagen das Ziel, ihre Bürger zu contigency surfers zu machen. Kontingenz ist für sie mehr nicht bedrohlich. Das Gesundheitssystem dient diesem Zweck wie das Versicherungswesen oder Tarifverträge.
Allerdings: Zur Kontingenz gehört nun leider auch der Schwarze Schwan: Im Katastrophenfall — das ist eine sehr unwahrscheinliche und nicht vorhersehbare Bedarfsspitze über normale Bedarfsschwankungen hinaus und deshalb jenseits der aktuellen Kapazität — kann es sein, dass das Gesundheitssystem lokal oder auch großflächig den Bedarf nicht decken kann.
Da muss man dann schauen, wie man diese Spitze bewältigt. Es kann z.B. eine Triage nötig sein, bis der ungewöhnliche hohe Wellenberg, geradezu die Monsterwelle, vorbei gerauscht ist. Das ist sehr unschön, aber es hilft nichts. Das Gesundheitssystem vorher schon auf einer Kapazität zu fahren, die auch die Katastrophe ausgehalten hätte, wäre im Hinblick auf andere Belange des Lebens unverhältnismäßig gewesen.
Was verhältnismäßig ist, das ist natürlich eine Sache des gesellschaftlichen Konsenses. Im aktuellen ökonomischen Weltbild ist die Geldmenge des Staates begrenzt; man muss sich also entscheiden, wie sie aufgeteilt wird.
Der eine möchte mehr in die Rüstung stecken, weil da draußen Feinde lauern. Der anderen ist es wichtiger, im Alter nicht in Armut zu leben. Dem nächsten liegt die gesundheitliche Versorgung im Hier und Jetzt mehr am Herzen als das Alter oder die Verteidigung. Usw. usf.
Das ist ständiges ökonomisches Abwägen. Und in einer Demokratie geschieht das im Sinne der Bevölkerung. Deren Mehrheitswille ist zu implementieren. Wie der ermittelt wird, sei dahingestellt. Eine Demokratie wird da so ihre Analyseinstrumente haben; das ist ja ihre hauptsächliche Aufgabe.
Zu jedem Zeitpunkt sind die finanziellen Mittel des Staates also in gewisser Weise den Systemen zugeordnet. Das passt allermeistens — nur eben manchmal nicht.
Was nun, wenn es nicht passt? Was tun, wenn die Monsterwelle auf das Gesundheitssystem trifft?
Dann müssen kurzzeitig die Zähne zusammengebissen werden. Es ist eine schmerzvolle Zeit, wenn eine Triage nötig ist. Das normale Leben vieler ist eingeschränkt. Manche Freiheiten können nicht gewährt werden oder die Konsequenzen mancher Freiheitsnutzungen können leider gerade nicht durch das Gesundheitssystem kompensiert werden. Offizielle begrenzende Maßnahmen müssen ergriffen werden; freiwillige Maßnahmen darüber hinaus mögen angezeigt sein.
Doch irgendwann ist die Monsterwelle abgeebbt. Dann ist wieder Normalität. Es gilt nun aufzuräumen und zu reflektieren. Zeit für ein post mortem.
Was jetzt?
a) Wenn es nur eine Monsterwelle war, dann kann entschieden werden, dass nichts am Budget des Gesundheitswesens verändert wird. Es war halt Pech. Kann vorkommen. Hoffentlich dauert es jetzt sehr lange bis zur nächsten Monsterwelle. Aufräumen und weiter wie vorher.
b) Oder es wird entschieden, dass man die Welt falsch eingeschätzt hat bzw. die Welt sich verändert hat. Es braucht eine grundsätzlich höhere Pufferkapazität im Gesundheitssystem. Solche oder ähnliche Monsterwellen drohen, häufiger aufzutreten? Dann sind sie keine ungewöhnlichen Monsterwellen mehr, sondern im Rahmen erwarteter Schwankungen schlicht mögliche hohe Bedarfswellen, für die fortan Reservekapazität vorzuhalten ist.
c) Oder die Monsterwelle entpuppt sich als längerfristige, gar dauerhafte Pegelerhöhung. Dann muss nicht nur die Pufferkapazität angepasst werden, sondern vor allem die Normalkapazität.
In den Fällen b) und c) ist also das Budget des Gesundheitswesens erhöht zu erhöhen. Das ist nötig, um den Bürgern weiterhin alle Freiheiten zu garantieren, die sie früher auch hatten. Das ist die Aufgabe eines freiheitlich-demokratischen Staates: Freiheiten erhalten, besser sogar, Freiheiten vermehren.
Es sei denn… die Bürger entscheiden, dass sie das nicht wollen. Sie können sagen, “Nein, danke, der Pegelstand ist nun höher, aber wir wollen nicht mehr Geld ins Gesundheitssystem pumpen auf Kosten von Bildung, Sicherheit, Mobilität, Rente usw. Wir leben lieber mit weniger Freiheiten in gesundheitlicher Hinsicht.”
Die Bürger müssen also befragt werden, wie sie meinen, dass die Monsterwelle bzw. der neue Pegelstand in Bezug auf die Finanzen interpretiert werden soll. Das ist nötig, um eine demokratische Entscheidung zu finden. Das ist die Aufgabe eines freiheitlich-demokratischen Staates.
In einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist es nicht hinzunehmen, dass Freiheiten und/oder demokratische Entscheidungsprozesse beschnitten werden. In einem kurzen Katastrophenmoment mag das im ersten Schreck passieren und auch nötig sein. Doch es muss alles Bestreben dahingehen, dass diese Sondersituation schnellstmöglich überwunden wird. Der Kopf muss zügig übers Wasser, sonst ertrinkt die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
In Bezug auf die sog. Corona-Pandemie war vielleicht im Zeitraum von Februar bis August 2020 eine solche Zeit des Erschreckens. In scheinbar unerahnbarer Situation hatte die Regierung Panik und hat sofort eine Triage ausgerufen, um eine noch nicht einmal vorhandene Überlastung des Gesundheitssystems im Keim zu ersticken.
Ob das nötig war? Sei’s drum. Jeder überreagiert auch mal.
Doch ab September 2020 hätte eine bedachte Reaktion im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einsetzen müssen. Das Ziel hätte sein müssen: vormalige Freiheiten schnellstmöglich wieder zu gewähren durch Aufstockung des Budgets des Gesundheitssystems.
Wenn geahnt wurde, dass die erste Welle nicht die einzige bleiben würde, dann hätte ein neuer Pegelstand anerkannt werden müssen. Ein neues Normal bei der Volksgesundheitsgefährdung hätte zu einem neuen normalen Budget für das Gesundheitssystem führen müssen. Mehr Kapazität, um den Menschen auch unter Drohung von COVID-19 ein freies Leben zu ermöglichen.
Die Entwicklung bzw. der Einkauf eines Impfstoffes mag zu dieser Budgetaufstockung gehören. Doch letztlich darf die Impfung nicht die einzige Lösung bleiben. Die Gesamtlösung muss die Wiederherstellung der Freiheit der Bevölkerung zum Ziel haben. Dazu gehört volle Bewegungsfreiheit, volle Versammlungsfreiheit, volle Maskenfreiheit. Und dazu gehört vor allem ein Gesundheitssystem, das die Freiheit gewährt, seine Gesundheit durch eine SARS-CoV-2 Infektion genauso zu gefährden wie durch andere “Immunsystembelastungen”.
Oder vielleicht auch nicht. In solch existenzieller Lage hätte die Regierung vielleicht entscheiden müssen, eben nicht selbst zu entscheiden, sondern die Bevölkerung direkt zu fragen: “Was wollt ihr? Wollt ihr eine jährliche Impflicht und ständige Impfkontrolle inkl. Testungen, so dass wir uns eine grundlegende Kapazitätsaufstockung sparen können? Oder wollt ihr lieber alle Freiheiten zurück — inkl. der Möglichkeit zur persönlichen Entscheidung für Abstand, Maske, Impfung — und es wird das Budget des Gesundheitssystem aufgestockt. Dafür müssen wir leider aus einem anderen System Geld abziehen, z.B. im Verteidigungshaushalt.”
Ein solches Verhalten wäre einer freiheitlich-demokratischen Regierung würdig gewesen.
Aber so hat sich die Regierung in Deutschland (oder auch Österreich, Schweiz) nicht verhalten.
Weder wurde die Wiedererlangung aller Freiheiten zur höchsten Priorität gemacht. Noch wurden die tief in die Gesellschaft eingreifenden Entscheidungen mit dieser abgestimmt; Demokratie hatte also ebenfalls keine höchste Priorität.
Die Corona-Pandemie hat mithin die vormals freiheitlich-demokratische Grundordnung an ihr Ende geführt. Sie existiert nicht mehr. Ihre Regierung hat sie abgeschafft.
Willkommen in der Post-Demokratie.