Das Kundenbedürfnis-Narrativ
Eine gern erzählte, eine gern gehörte Geschichte: Der Kunde sei König, für ihn sei das Unternehmen da, man setze alles daran, ihm zu…
Eine gern erzählte, eine gern gehörte Geschichte: Der Kunde sei König, für ihn sei das Unternehmen da, man setze alles daran, ihm zu dienen. Das halte ich entweder für ein Missverständnis oder für eine Lüge. Im ersteren Fall fehlt Verständnis, im letzteren weiß man es besser, sagt das aber aus gewissen Gründen nicht.
Auf dieses Narrativ, wie ich es mal zeitgemäß nennen will, bin ich bei Lektüre eines Artikels über Digitalisierung gestolpert. Wieder einmal, denn es ist ja an vielerlei Orten zu hören. Dort hieß es:
„Ein Unternehmen ist dazu da, Kundenbedürfnisse zu befriedigen und dabei mehr Geld einzunehmen, als auszugeben.“
Ich glaube dem Autor, dass auch er das wirklich glaubt. Doch auch ein fester Glaube macht das Geglaubte ja noch nicht zur Realität. Wiederholte Behauptung ist kein Bürge für Wahrheit, wie alle wissen, die Propaganda benutzen, um Ziele zu erreichen.
Warum beiße ich mich denn aber fest an dieser Behauptung? Für mich ist sie ein Symptom einer Illusion. Es mag eine gut gemeinte Illusion sein; nur erzeugt sie wie alle Illusionen früher oder später kognitive Dissonanz und daraus folgend Kompensationsaufwand, der schlichte Verschwendung darstellt. Das widerspricht meinem “ästhetischen Gefühl”, das eine Welt ohne Konflikt und Verschwendung vorzieht.
Mein erster Beleg für die Irrealität der Begründung für die Existenz von Unternehmen ist das kleine Wörtchen “und” in der Behauptung: es gehe um Kundenbedürfnisbefriedigung und Gewinn.
Es werden mit einem Unternehmen also zwei Ziele verfolgt? Das scheint mir erstmal kein Erfolgsrezept, denn damit wird Energie nicht konzentriert, sondern gestreut. Wenn die Energie nicht gleich verteilt ist auf beide Ziele, dann leidet eines. Was mag daraus folgen? Erleidet es seine Zurücksetzung stumm — oder lehnt es sich dagegen auf und es beginnt ein Kampf um Energie/Aufmerksamkeit zwischen den Zielen? Umso wahrscheinlicher ist solcher Konflikt, je unvereinbarer die Ziele real oder scheinbar zueinander sind.
Der umgekehrte Fall, dass beide Ziele im Grunde auf einer Linie liegen und beide gleichzeitig erreicht werden können, also die Energie nicht gestreut werden muss… das halte ich für sehr, sehr unwahrscheinlich bis unmöglich in diesem Fall.
Wenn nun jedoch das “und” nicht so recht funktioniert, d.h. sich jeder Unternehmer entscheiden muss, was der Gründungszweck seines Unternehmens sein soll, worauf fällt dann seine Wahl?
Für mich ist es ganz natürlich, dass die Wahl auf den Gewinn fällt. Der Unternehmer gründet ein Unternehmen, um für sich Gewinn zu erwirtschaften. Der Zweck ist die persönliche Bereicherung. Dem Unternehmer soll es besser gehen. Warum auch nicht? Er könnte sich für ein Leben als Selbstversorger entscheiden; dann braucht er vielleicht kein (frisches) Geld. Er lässt es sich mit eigenen regionalen und saisonalen mehr oder weniger biologisch angebauten Produkten gut gehen.
Doch das tut der Unternehmen eben nicht. Er entscheidet sich für die Versorgung mit Geld, um seine vielfältigeren Bedürfnisse flexibel befriedigen zu können. Warum auch nicht?
Der eine lässt sich abhängig beschäftigen in einem Unternehmen, um Geld zu bekommen für seine Bedürfnisbefriedigung. Die andere gründet ein Unternehmen, um an Geld zu kommen für ihre Bedürfnisbefriedigung. It’s a free world.
Für die Unternehmerin ist das Unternehmen mithin ein Mittel, um den eigenen “Überlebenszweck” zu erfüllen. Und für das Unternehmen ist der Kunde ebenfalls ein Mittel, um seinen Gründungszweck zu erfüllen.
Damit entfällt das “und”. Die Definition schnurrt zusammen auf:
„Ein Unternehmen ist dazu da, […] mehr Geld einzunehmen, als auszugeben.“
Unternehmen sind “Gewinnfabriken”. Sie verarbeiten Kundenbedürfnisse unter Zuhilfenahme von Rohstoffen zu Gewinn.
Das kann doch nicht sein? Doch, das kann sein und ich glaube das nicht allein. Als Beleg hier ein Suchergebnis aus einer Bilderdatenbank. Der Suchbegriff ist “satisfaction”, also Zufriedenheit/Befriedigung. Als top Treffer wird u.a. ein Bild geliefert, das sich mit Worten genau auf das Thema hier bezieht:
Es geht um den zufriedengestellten Kunden. Den anzustreben, sei die beste Geschäftsstrategie von allen. “Ja, klar, das ist doch Zweck von Unternehmen.” ist darauf die übliche Reaktion. Doch das verkennt die Formulierung: Es wird von einer Strategie gesprochen. Kundenzufriedenheit ist die beste Strategie, um etwas zu erreichen. Aber was ist das, was erreicht werden soll? Strategien sind stets Mittel im Sinne eines Zwecks. Aber was ist der Zweck? Wenn die Kundenzufriedenheit das Mittel ist, ist der Zweck etwas anderes.
Es bleibt nur: der Zweck ist der Gewinn für den Unternehmer (genauer: die Eigner des Unternehmens).
Ausformuliert müsste in dem Bild stehen:
A satisfied customer is the best strategy of all to increase the profit for the owners of the business.
Das wäre ehrlich oder zumindest realitätstreu.
Diese Bedeutungsverschiebung vom Kunden als Zweck zum Kunden als Mittel mag klein, gar kleinlich aussehen. Ich halte sie jedoch für fundamental und sehr erklärungsmächtig.
Indem der Unternehmenszweck nun klar ist, ist nicht nur klar, welche Rolle Kunden spielen, sondern auch, welche Rolle Mitarbeiter spielen. Beide Sorten Menschen sind lediglich Mittel, so wie Arbeitsstätten oder Rohstoffe Mittel sind. Das bedeutet im Sinne ökonomischen Verhaltens, dass die Kosten auch für diese “Humanmittel” zu minimieren sind: so wenig wie möglich, so viel wie nötig sollte für sie ausgegeben werden.
Unternehmen sind keine Kantinen, Kindergärten oder Fitnessstudios, sondern sie haben höchstens welche — solange deren Betrieb die Mitarbeiterkosten unterm Strich senkt.
Unternehmen produzieren auch stets nur so wenig Qualität wie nötig, um einen gewissen Gewinn zu erreichen. Sie sind kein Idealistenverein, dem kein Aufwand zu viel ist, um auch noch den Letzten glücklich zu machen; nein, sie sind knallhart kalkulierende “Gewinnfabriken”, denen eine wirkliche Befriedigung ihrer Kunden letztlich egal ist. Ihnen reicht stets good enough. Die Frage ist nur, welchen Zeithorizont sie in den Blick nehmen: good enough sieht anders aus, wenn es nur ums nächste Quartal geht, statt um die nächste Dekade.
Warum ich das so schwarz/weiß sehe? Weil ich z.B. einen Kunden hatte, bei dem mir das anhand dessen Produkte für seine Kunden klar geworden ist.
Mein Kunde war ein Hersteller von Sensoren und Messinstrumenten. Der zeigte mir stolz seine Produktausstellung und ich fragte, wofür denn diese Geräte seien. Darauf nahm er als Beispiel ein Messinstrument für Lebensmittel. Mit dem konnten deren Bestandteile analysiert werden. Er sagte, es würde z.B. von Senfproduzenten eingesetzt, die damit überprüfen, wie die Zusammensetzung ihres Senfs genau sei. Sie würden nämlich Normen einhalten müssen, um ihre Produkte noch Senf nennen zu können. Diese Normen würde sie selbstverständlich nicht unterschreiten, aber eben auch nicht überschreiten wollen. Sie seien bestrebt, ihren Senf so wenig “senfig” zu machen, wie es die Normen eben zuließen.
Der Kunde solcher Unternehmen möchte einen “soliden” Senf, einen echten, einen natürlichen. Was er aber bekommt, ist ein Produkt, das nach Senf aussieht, sich so anfühlt, irgendwie auch so schmeckt — aber alles in allem vor allem durch Normen noch in einem “Senfrahmen” gehalten wird. Ohne die Normen würde die Senf-Industrie irgendetwas herstellen, was sich noch billiger produzieren ließe, ohne die senfbedürftige Kundschaft zu vergraulen. Mehr Geschmacksstoffe, weniger natürliche Zutaten wäre da sicherlich die Lösung.
Nicht anders ist es mit anderen Produkten: Schokoriegel, Shampoo, Kosmetik, Fitnessstudio, Auto. Die herstellenden Unternehmen haben eine Gewinnerzielungsabsicht, die sie mit unterschiedlichen Mitteln versuchen zu erfüllen. Wo ein Unternehmer einen Markt erkennt, versucht er ihn mittels eines Unternehmens zu seinem eigenen Zweck auszubeuten.
Grenzen setzen ihm nur Gesetze/Normen, die Wahrnehmung des Kunden und evtl. sein persönlicher Anstand. Das bedeutet:
Im Rahmen von Gesetzen/Normen bewegt sich die Produktion über kurz oder lang zu einem Minimum an Kosten.
Im Rahmen der Wahrnehmung des Kunden bewegt sich die Produktion über kurz oder lang hin zur Wahrnehmungsgrenze für echte Qualität (im Gegensatz zu suggerierter)— oder das Unternehmen versucht sogar aktiv, die Wahrnehmung zu stören bzw. die Bedürfnisse zu seinen Gunsten zu verschieben (Stichwort: Werbung).
Im Rahmen des Anstands des Unternehmers bewegt sich die Produktion über kurz oder lang in größere Distanz zum Anstand durch Aufbau von bürokratischen Strukturen, die verantwortungsreduzierend sind. Das mag nicht intendiert sein, doch solange die Gewinnerzielungsabsicht Wachstum antreibt, scheint mir diese Entwicklung wahrscheinlich.
Eine Welt, in der Unternehmen wirklich den Zweck hätten, Kundenbedürfnisse zu befriedigen, würde anders aussehen. Allemal würden Unternehmen in einer solchen Welt weder Bedürfnisse anstacheln noch von sich aus erzeugen.
Doch der Zweck von Unternehmen ist eben ein anderer. Und so sieht denn die Welt aus, wie sie aussieht: Sie ist dominiert von Werbung und Konsum. Umso mehr ist das so, je schwieriger es wird, das Gewinnbedürfnis der Unternehmer/Eigner mit Produkten für solide, reale, klar erkennbare Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Kunden als Mittel werden immer schwieriger greifbar; sie zum eigenen Zweck zu nutzen, wird immer schwieriger.
Ginge es nur um Kundenbedürfnisse, könnte die Unternehmenswelt zur Ruhe kommen. Die soliden, realen, klaren Bedürfnisse sind alle gestillt. Wohlstand ist erreicht. Unternehmer können Pause machen. Die existierenden Kapazitäten befriedigen die Märkte.
Doch so ist es nicht. Mehr Produkte, mehr Unternehmen, größere Unternehmen zielen auf ein im Grunde sogar schrumpfendes Kundenpotenzial (in den Industrieländern). Das ist für mich nur damit zu erklären, dass es eben nicht um Kundenzufriedenheit als Zweck von Unternehmen geht, sondern schlicht und einfach um die Gewinnerzielung.
Wir sollten aufhören, das Narrativ vom Kunden als Unternehmenszweck zu verbreiten. Es verstellt den Blick für die Wirklichkeit. Es macht das, was ist, unverständlich. Es führt deshalb beim Einzelnen oder auch bei Gemeinschaften zu falschen Entscheidungen.
Wer kann daran Interesse haben? Mir fällt da lediglich eine Partei ein. Insofern glaube ich auch nicht, dass es sich um ein bloßes Missverständnis handelt. Mir erscheint die wiederholte Behauptung vielmehr als Propaganda. Unternehmen selbst haben Interesse daran, sich so darzustellen. Es macht sie humaner; es nimmt sie aus der Schusslinie von Kritik. Das Narrativ vom Kunden als Zweck lässt Unternehmen ihren eigentlichen Zweck besser erfüllen.
Als Beispiel dafür, wie ein Narrativ die “Humanmittel” ruhig stellen soll, indem es sie als Zweck deklariert, ist die Sozialpolitik. Sind nicht die Sozialgesetze aus humanitären Gründen erlassen worden? Ist ihr Zweck nicht unmittelbar der Menschen, dem ein würdigeres Leben ermöglicht werden soll? So einfach ist es leider nicht:
Geleitet von außenpolitischen Machtambitionen des Staates, haben auch militärische Interessen, Krieg und die Kriegsfolgenbewältigung die staatliche Sozialpolitik geprägt.
Entscheidende Impulse für die Sozialgesetzgebung nicht nur in Deutschland sind vom Militär gekommen. Und das nicht, weil das Militär so human ist, sondern weil das Militär einen “gesunden Volkskörper” als Mittel gebraucht hat:
Für den Präsidenten des Reichsversicherungsamtes Paul Kaufmann war die Arbeiterversicherung gar eine “Quelle deutscher Kriegsbereitschaft” und er sah Ende 1914 im patriotischen Fieber in den Errungenschaften der Sozial- und Bildungspolitik den Grund für den Sieg.
Also: Organisationen, die behaupten, den Menschen als Zweck zu haben, kann durchaus misstraut werden. Und allemal ist das so, wenn Geld, viel Geld im Spiel ist.