Big Mother — Tyrannei 2.0
Das Zeitalter von Big Mother ist 2020 endgültig angebrochen. Und Mutter ist schlimmer als der große Bruder.
Das Zeitalter von Big Mother ist 2020 endgültig angebrochen. Und Mutter ist schlimmer als der große Bruder.
Die Idee des Big Brother ist uns so ins kollektive Bewusstsein gepflanzt worden, dass wir nicht gemerkt haben, nicht merken konnten, dass die Gefahr dort lauert, wo man nicht hinschaut. Die Warnungen vor und ewigen Diskussionen um Big Brother haben zu einen Tunnelblick geführt. Genauso haben die Warnungen vor und ewigen Diskussionen um den Nationalsozialismus des 3. Reichs einen Tunnelblick entstehen lassen.
Faschismus ist mehr als Nazis, viel mehr und viel perfider. Genauso unterliegt Big Brother etwas, das weiter und perfider ist: Big Mother.
Der Slogan in Geroge Orwells 1984 lautet “Big Brother is Watching You”; so steht es dort auf Plakaten. Wort und Bild sind im Einklang.
Was Big Brother aber im Grunde “nur” zu einem Kinderschreck macht, eben einen Schrecken nur für den kleinen Bruder, das ist seine Offenheit. Big Brother macht gar keinen Hehl aus seiner Überwachung und Kontrolle. Sie ist für alle offensichtlich, spürbar, real; niemand will sie. Big Brother ist ein offensichtlicher Tyrann.
Big Brother steht für offene Gewalt(androhung). An Big Brother gibt es für uns nichts misszuverstehen. Weder für uns Außenstehende, noch für die Protagonisten in 1984 ist Big Brother etwas Gutes. Die Angst vor ihm bzw. seinen Organen herrscht vor.
Was nun, so denke ich, bei all dem jahrzehntelangen Flügelschlagen um Orwells Dystopie übersehen wurde, das ist die Anpassungsfähigkeit von Unterdrückung. Unterdrückung als emergentes Phänomen und Unterdrücker als Planer und Täter sind nicht dumm. Unterdrückung und Unterdrücktes stehen in einer Co-Evolution.
Big Brother mag die Version 1.5 der Unterdrückung sein. Version 1.0 war die ohne technologische Mittel. In 1984 spielen die jedoch eine große Rolle; damit wird Unterdrückung 1.0 einfacher, sie hat ein Update bekommen. Ein major version change ist das aber für mich noch nicht. Denn die Unterdrückung hat letztlich ihre Grundform behalten: Sie geht eindeutig von einem Tyrannen aus. Die Tyrannisierten erkennen sich als solche — fühlen sich aber unfähig, die Tyrannei abzuschütteln. Offensichtliche Gewalt und Gewaltandrohung sind immer noch an der Tagesordnung. Die Unterdrückten versuchen schlicht, sich so klein wie möglich zu machen. “Bloß nicht auffallen!” ist das Motto.
Mit Big Mother jedoch hat die Tyrannei eine erhebliche Überarbeitung erfahren. Auch Tyrannei ist ja ein ökonomisches Unterfangen; sie muss auf ihre Ressourcen achten, sonst schwächelt sie bald. Solange Tyrannei noch vom Tyrannen allein gestemmt werden muss, ist sie sehr, sehr aufwändig.
Der Tyrann der nächsten Generation ist mithin daran zu erkennen, dass er ökonomischer vorgeht. Ich möchte fast sagen, sein Motto ist: “Alle Tyrannei geht von den Tyrannisierten aus!” Das ist wahrlich ökonomisch! Die Tyrannei wird dezentralisiert.
Das haben auch der Nationalsozialismus und die DDR schon probiert. Aber Spitzel — angeheuerte und selbsternannte — sind letztlich doch noch zu sehr von “der Zentrale” abhängig und zu wenige.
Dieses Problem hat nun Big Mother gelöst. Sie verdient die Versionsnummer 2.0, weil sie es geschafft hat, sich wesentlich zu dezentralisieren. Vielleicht könnte man sie auch inverted tyranny nennen.
Im normalen Klassenraum bringt der Lehrer den Schülern etwas bei durch Erklärungen — im inverted classroom jedoch bringen sich die Schüler den Stoff selbst bei; der Lehrer ist nun fokussiert auf das Wesentliche: Feedback, Personalisierung der Stoffauswahl, Vertiefung durch Q&A, Accountability Partner.
Auch die Tyrannei 2.0 kommt nicht ohne eine “Mitte” aus, doch das Wesentliche passiert eben dezentral. Im inverted classroom gibt es ja immer noch noch einen Lehrer. In der inverted tyranny gibt es daher auch noch einen Tyrannen. Dessen Rolle hat sich jedoch verändert: Der Tyrann 2.0 droht nicht mehr selbst, sondern versetzt die Tyrannisierten in die Lage, sich selbst zu drohen.
Diese Drohung besteht im Untergang durch Zweifel.
Tyrannei 2.0 in Form von Big Mother lebt vom eingepflanzten Glauben an die Güte des Tyrannen. Sorge, Fürsorge, Verantwortungsbewusstsein sind die Eigenschaften des Tyrannen 2.0. Der Slogan von Big Mother aus noch zu schreibenden Roman 2020 lautet:
Big Mother is Caring for You
Und statt durch grimmen Blick weist sie sich durch ausgebreitete Arme und wärmespendenden Busen aus.
Wer würde dazu Nein sagen wollen? Wer würde Fürsorge ablehnen? Sie anzunehmen ist auch ein Gebot der Ökonomie. Oder? Wer Fürsorge bekommt, muss nicht für sich selbst sorgen; das spart Zeit und Geld. Und wer würde dem Selbstaufopferungswillen, der hinter solcher Fürsorge steht, nicht glauben wollen?
Natürlich ist Fürsorge eine gute Sache, wenn sie im rechten Maß gezeigt wird. Nicht alle können ständig für sich selbst sorgen: Kindheit oder Krankheit oder Unwissenheit oder Kraftlosigkeit sind gute Gründe, sich in Gemeinschaften zusammenzuschließen und auch füreinander zu sorgen. Das ist wohl eines der Erfolgsrezepte der Menschheit; das macht Menschen aus; Fürsorge ist Menschlichkeit.
Und genau darin steckt die Perfidie der Tyrannei 2.0: Mit Big Mother hat sie diesen Kern des Menschseins “waffentauglich gemacht”.
Big Mother setzt Fürsorge in drei Schritten gegen Menschen ein:
Zuerst weitet Big Mother den Umfang ihrer Regeln beständig mit Fürsorge als Begründung aus. Jede Regel dient dem Schutz der Fürsorgebefohlenen. Sie werden vor einander und vor sich selbst geschützt. Kein Risiko ist zu klein! Keine Schwäche ist zu gering, dass sie nicht durch eine Regel vor Stress bewahrt werden sollte!
Dann zeigt Big Mother allen Fürsorgebefohlenen auf, in welche Gefahr sie sich begeben, wenn sie die fürsorglichen Regeln nicht befolgen. Wer Fürsorge nicht annehmen will, der ist auf sich allein gestellt. Und: der wertschätzt nicht die Mühe, die Big Mother auch für ihn aufwendet. Das tut Mutter weh.
“Die Träne im Auge der Mutter blitzt wie das Beil des Henkers.”, Otto Frank
Und schließlich vertraut Big Mother darauf, dass Menschen, die verstanden haben, wie groß und wertvoll ihre Fürsorge ist, und die auch wissen, dass Mutter nur begrenzte Kräfte hat, durch jeden Einzelnen unterstützt werden muss. Wer Fürsorge dankbar empfängt, muss sich ihrer auch würdig erweisen und die Frohbotschaft verbreiten. Nur wenn jeder seines Bruders und seiner Schwester Hüter wird, wenn die eine den anderen stets an die Güte von Big Mother erinnert und zur Befolgung der Regeln ermahnt, werden Mutters Schutz und Segen fortdauern.
Tyrannei 2.0 hat das Gewissen der Tyrannisierten im Griff. Neu ist das nicht, denn auch die christliche Kirche hatte es schon instrumentalisiert. Doch die Kirche hat trotzdem noch eine 1.* Version: Sie setzt auf Angst vor dem Äußeren (Gottes Gericht, Teufel). Das ist Kinderschreck-Niveau für aufgeklärte Menschen.
Big Mother wächst darüber hinaus, indem sie unter die Haut geht. Ihr Mittel ist die emotionale Erpressung. Während Big Brother noch auf körperliche Bestrafung setzt, droht Big Mother mit emotionaler. Das ist viel ökonomischer! Scham und Schuld sind Züchtigungen, die jeder sich selbst verabreichen kann — und vor denen man sich selbst bewahren kann, indem man sich fürsorgewürdig durch Regelbefolgung verhält.
Insofern profitiert Big Mother von jeder Unerwachsenheit. Das Kind kann die emotionale Erpressung nicht durchschauen. Das Kind ist nicht erwachsen, weil es seine Gefühle nicht beherrschen und ihre Angemessenheit nicht beurteilen kann. Je unerwachsener also eine Gemeinschaft ist, desto anfälliger ist sie für Tyrannei 2.0.
Big Brother hingegen profitiert von Schwäche. Der Schwache kann sich nicht gegen körperliche (oder wirtschaftliche) Zudringlichkeit schützen. Es ist leicht, ihm Gewalt anzutun bzw. ihm damit zu drohen.
Und alle Tyrannei profitiert natürlich davon, wenn die Tyrannisierten sich nicht austauschen und zusammenfinden können. Die Bildung von stärkeren, erwachseneren, reflektierteren Gemeinschaften, ist jeder Tyrannei eine Gefahr. Das gilt auch für Big Mother. Insofern fördert auch sie Vereinzelung und Kommunikationsverzerrung.
Und nun zum aktuellen Zeitgeschehen:
Interessanterweise lässt sich Fürsorge besonders leicht in allen Angelegenheiten die Gesundheit betreffend zeigen. “Kind, nimm noch ein Stück. Du brauchst was zum Zusetzen.” ist ein Spruch, den zumindest viele Kinder in meiner Generation oft von Müttern und Omas gehört haben. Genauso: “Kind, zieh lieber die dicke Jacke an, sonst verkühlst du dich.”
Das und mehr ist von Müttern und Omas natürlich allermeistens in guter, nicht tyrannischer Weise gemeint gewesen und echter Sorge und angemessenem Verantwortungsgefühl entsprungen.
Doch wo ist die Grenze? Persönlich empfinden Kinder die sehr deutlich und rollen mit den Augen, wenn es ihnen zu viel wird. Diese Spannung zwischen Eltern und Kindern gehört wohl noch zu gesunden Erwachsenwerden.
Zuviel wird es jedoch, wenn die emotionale Erpressung dazu tritt. Gänzlich pathologisch ist es schließlich, wenn in das Wohl der Fürsorgebefohlenen negativ eingegriffen wird, um wieder/weiterhin Fürsorge zeigen zu können. Das ist der Fall beim Münchhausen Stellvertretersyndrom:
“[…] ist das Erfinden, Übersteigern oder tatsächliche Verursachen von Krankheiten oder deren Symptomen bei Dritten, mehrheitlich Kindern, meist um anschließend eine medizinische Behandlung zu verlangen und/oder um selbst die Rolle eines scheinbar liebe- und aufopferungsvoll Pflegenden zu übernehmen.” (Hervorhebung nicht im Original)
Wer grundsätzlich Sinn und Zweck seines Daseins aus der Fürsorge zieht, gar aus der gesundheitlichen Fürsorge, der scheint mir stets im Risiko zu stehen, zu einer Big Mother gegenüber den Fürsorgebefohlenen zu mutieren. Als Auslöser stelle ich mir ein Gefühl schwindender Wertschätzung und schwindender Kontrolle vor. Wer sich so mit Fürsorge identifiziert, wer sich vom Fürsorgen abhängig macht und sich kein alternatives Dasein vorstellen kann, wer mit dem schwinden von Wertschätzung und Kontrolle also sein Dasein bedroht sieht… Für den kann es naheliegen, sich den Fürsorgebedarf aktiv zu erhalten, geradezu zu erschaffen. So, wie es nicht unbekannt ist, dass auch mal eine Feuerwehr sich selbst einen Brand legt, um wieder publikumswirksam ausrücken zu können.
Dass in diesen VUCA-Zeiten eine Entwicklung hin zu Big Mother stattfindet, ist für mich deshalb sehr plausibel. Staaten und ihre fürsorgenden Organe fühlen sich unter Druck, wenig gewertschätzt, mit jedem Tag durch das allgemeine gesellschaftliche Klima in mehr Verantwortung hineingedrängt und auch noch daran interessiert sich selbst zu erhalten. Wer da nicht “Ruhe in den Laden” bringen kann mit Mitteln der Tyrannei 1.*, der verfällt allzu natürlich auf 2.0. Corona gibt dafür eine Steilvorlage.
Niemandem muss man nun Fürsorge (aka staatliche Regelung) mehr aufdrängen. Sie wird vom Wahlvolk eingeklagt. Und Big Mother lässt sich die Fürsorge so einfach sein, wenn es um Corona geht.
Fürsorglich sein in Corona-Zeiten ist nämlich — um im Bild des Eltern-Kind Verhältnisses zu bleiben — so einfach wie “Zieh die warme Jacke an! Ich hole sie dir; einen Moment…” Wieviel schwieriger ist es hingegen, der elterlichen Fürsorgepflicht zu entsprechen, wenn die Noten in der Schule schlechter werden nach dem Umzug. Was da alles getan werden könnte, müsste, dürfte… Womöglich müsste man den Umzug hinterfragen. Womöglich sollte man sich selbst verändern. Nein, das ist ein komplexes Problem. Davon will man keine haben; die ignoriert man besser und sucht die Ursache beim neuen Lehrer, der unangemessen anspruchsvoll ist. Wenn das Kind dann jedoch ohne Jacke mal zum Spielen will oder das Kind mit Fieber im Bett liegt oder für die Sättigung einen Schokoriegel verlangt… dann ist das ein geradezu triviales Problem. Mehr davon! Das lässt sich mit sehr konkreter Fürsorge hier und jetzt lösen.
Selbstwirksamkeit erfahren durch Fürsorge. So kann aus good mother eine Big Mother werden.
Aber es gehören auch hier eben zwei dazu. Manche Menschen wollen sich bemuttern lassen. Für den Einzelnen ist die VUCA-Welt ebenfalls bedrohlich. Wie schön, wenn da jemand ist, der fürsorgewillig ist. Mehr davon!
Und so dreht sich die Co-Evolutionsspirale. Bis einer weint. Und das ist dann nicht Big Mother, denn deren Tränen gilt es zu vermeiden.